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author: 'Dr. Friedr. Wilh. Krummacher'
generator: pandoc
title: Blicke ins Reich der Gnade
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- [Israels Tau und Gottes Rose.](#israels-tau-und-gottes-rose.)
- [Christus unter dem Bilde eines Taues auf
Israel](#christus-unter-dem-bilde-eines-taues-auf-israel)
- [Seine Braut, die Gemeinde oder gläubige Seele, unter dem Bilde
einer blühenden
Rose.](#seine-braut-die-gemeinde-oder-gläubige-seele-unter-dem-bilde-einer-blühenden-rose.)
- [Jsaschar oder Das Lager zwischen den
Grenzen.](#jsaschar-oder-das-lager-zwischen-den-grenzen.)
- [Wo er sich lagert](#wo-er-sich-lagert)
- [Wie er in dies Lager hineingeraten
ist.](#wie-er-in-dies-lager-hineingeraten-ist.)
- [Welchen Mühen und Gefahren er in demselben unterworfen
ist.](#welchen-mühen-und-gefahren-er-in-demselben-unterworfen-ist.)
- [Das Mutterherz Gottes.](#das-mutterherz-gottes.)
- [Zions Bau.](#zions-bau.)
- [Zions Klage.](#zions-klage.)
- [Gottes Zuspruch.](#gottes-zuspruch.)
- [Judas Lager.](#judas-lager.)
- [Den Stamm Juda,](#den-stamm-juda)
- [Sein Lager.](#sein-lager.)
- [Des Lagers Richtung.](#des-lagers-richtung.)
- [Sein Panier.](#sein-panier.)
- [Sein Heer.](#sein-heer.)
- [Seinen Hauptmann.](#seinen-hauptmann.)
- [Christi Lust und Spiel.](#christi-lust-und-spiel.)
- [Christi Lust und](#christi-lust-und)
- [Christi Spiel.](#christi-spiel.)
- [Das Nachtgesicht.](#das-nachtgesicht.)
- [Die Zeit, in welcher das Gesicht gesehen
wurde.](#die-zeit-in-welcher-das-gesicht-gesehen-wurde.)
- [Das Gesicht selber in seiner tröstlichen
Bedeutung.](#das-gesicht-selber-in-seiner-tröstlichen-bedeutung.)
- [Abfall und Wiederbringung.](#abfall-und-wiederbringung.)
- [Die Personen, von denen die Rede
ist.](#die-personen-von-denen-die-rede-ist.)
- [Der Abfall, dessen sie fähig
sind.](#der-abfall-dessen-sie-fähig-sind.)
- [Die Warnung, die ihnen gegeben
wird.](#die-warnung-die-ihnen-gegeben-wird.)
- [Satanstiefen.](#satanstiefen.)
- [Die Führung in die Wüste.](#die-führung-in-die-wüste.)
- [Das Fasten.](#das-fasten.)
- [Die Versuchungen.](#die-versuchungen.)
- [Der Zweck der Versuchung
Jesu.](#der-zweck-der-versuchung-jesu.)
- [Der Versucher.](#der-versucher.)
- [Versuchungsfähigkeit.](#versuchungsfähigkeit.)
- [Der erste Anfall.](#der-erste-anfall.)
- [Christi Waffe und Sieg.](#christi-waffe-und-sieg.)
- [Der zweite Anfall.](#der-zweite-anfall.)
- [Geistliche Höhen.](#geistliche-höhen.)
- [Bist du Gottes Kind, so laß dich
hinab!](#bist-du-gottes-kind-so-laß-dich-hinab)
- [Gottes Wort als Satans Waffe.](#gottes-wort-als-satans-waffe.)
- [Das Zaubergesicht.](#das-zaubergesicht.)
- [Die satanische Zumutung.](#die-satanische-zumutung.)
- [Des Kampfes Ausgang.](#des-kampfes-ausgang.)
Israels Tau und Gottes Rose.
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Hosea 14, 6: „Ich will Israel wie ein Tau sein, daß er soll blühen wie
eine Rose!"
„Bekehre dich, Israel" ruft der Herr seinem Volke zu. Die Verheißungen,
die er in diesem Zurufe beifügt und durch welche er lockt, sind ganz
Lieblichkeit und süßer denn Honig. Er will ihr Abtreten wieder heilen,
gern will er sie lieben, und sein Zorn soll sich von ihnen wenden. Ja,
er will Israel wie ein Tau sein, daß er soll blühen wie eine Rose. Bei
dieser letzten Verheißung, dem geistlichen Israel gegeben, bleiben wir
stehen, ihren Inhalt erforschend und an ihrem Kern und verborgenen Manna
uns labend: Wir betrachten:
1\. Christus unter dem Bilde eines Taues auf Israel und\
2. seine Braut, die Gemeinde oder gläubige Seele, unter dem Bilde einer
blühenden Rose.
Christus unter dem Bilde eines Taues auf Israel
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Der Herr wie ein Tau; welch ein sanftes, angenehmes Bild! Wie das dem
Herrn so wohl tut! Da seufzt ja wohl mancher unter uns im stillen: Ach
ja, mein Herr Jesus, sei mir wie ein Tau der Morgenröte und lagere dich
über mich wie ein sanfter milder Regen! Des Taus wird häufig gedacht in
der Schrift. Bald ist er ein Bild großer, leiblicher Wohltaten. „Siehe
da,“ heißt es zu Esau, „du wirst eine fette Wohnung haben auf Erden und
vom Tau des Himmels von obenher.” Bald sind es geistliche Segnungen, die
mit dem Tau verglichen werden. Der Brunnen Jakobs, heißt es 5.Mose 33,
wird sein auf dem Lande, da Korn und Most ist, dazu sein Himmel wird mit
Tau triefen. Bald ist es die Fruchtbarkeit und erquickende Kraft des
göttlichen Wortes, die unter dem Bilde des Taues dargestellt werden:
„Meine Rede“, heißt es, „fließe wie der Tau.” Bald ist es die Gnade:
„Des Königs Gnade“, sagt Salomo, „ist wie ein Tau auf dem Grase.” Bald
bezeichnet der Tau brüderliche Einigkeit im Geiste, Friede und
Eintracht: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig
beieinander wohnen! Wie der köstliche Balsam ist, der vom Haupt Aarons
herabfließt, wie der Tau, der vom Hermon herabfällt auf die Berge
Zions.“ Auch die Kinder Gottes selbst, die Wiedergeborenen, werden ein
Tau genannt, weil sie geboren sind von obenher, aus Gott, weil
göttlicher Lichtstrahl sie erleuchtet und das Bild der ewigen Sonne sich
in ihnen spiegelt, weil sie ein Schmuck sind, eine Zierde und Würze, wie
ein Tautropfen auf dem großen Felde der Menschheit und unvermerkt und
geheimnisvoll, gleichsam bei stiller Nacht geboren wurden. „Deine
Kinder”, heißt es Ps. 110, „werden dir geboren wie der Tau aus der
Morgenröte.“ Und dann Micha 5: „Es werden auch die übrigen aus Jakob
unter vielen Völkern sein wie ein Tau.” Sehr häufig ist es aber auch der
Heilige Geist mit allen seinen vielfachen Kräften, Gaben und Wirkungen,
der mit dem Tau verglichen wird. Wie oft heißt es nicht in der Heiligen
Schrift: „Der Herr befeuchte seinen Weinberg, er treibe Wolken darüber
hin und lasse regnen vom Himmel, und sein Brünnlein fließe durch
Jerusalem und gebe Wasser in der dürren Wüste und Sandfläche;“ da ist
immer der Geist gemeint, der für die Seele ist, was Tau und Regen für
die Natur. „Wacht auf und rühmet,” heißt es bei Jesaja 26, „die ihr
liegt unter der Erde. Denn dein Tau ist ein Tau des grünen Feldes; aber
das Land der Toten wirst du stürzen."
Wenn nun aber, wie in unserm Text, der Herr sich selbst einen Tau nennt,
so kann uns das nicht befremden. Der Herr sendet den Tau und ist auch
wieder der Tau selbst. Er ist ja eins mit dem Geist: „Der Herr ist der
Geist,“ sagt der Apostel; und abermals: „Wir werden verklärt in
dasselbige Bild, als vom Herrn, welcher der Geist ist.” Wenn Christus in
eine Seele eingeht, so geht der Geist auch ein, und teilt sich der Geist
uns mit, so ist es zugleich auch Christus, der in uns verklärt wird und
an und in uns sich lebendig erweist.
„Ich will Israel ein Tau sein.“ Welch eine demütige Benennung, als ob er
nicht um sein selbst willen da sei, sondern allein um dürrer Auen
willen, die der Erquickung bedürfen; als ob er nicht sich selber lebe,
sondern allein darum sein Leben und Dasein habe, daß er lebendig mache,
was welk und abgestorben ist; als ob das Leben und Gedeihen und
Frischsein der Kreaturen die Hauptsache sei, er aber nur ein Mittel
dazu. „Des Menschen Sohn”, spricht er, „ist nicht gekommen, daß er sich
dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für
viele.“ Und abermal: „Ich lasse mein Leben für die Schafe.” Er hat’s
einmal gelassen für sie am Kreuze, und in einem andern, geistlichen
Sinne läßt er es täglich aufs neue für sie. Er lebt uns, lebt, um sein
Leben uns zu schenken und mitzuteilen und uns seines Lebens teilhaftig
zu machen. Der König Himmels und der Erden — denn alle Dinge sind unter
seine Füße getan — der will uns ein Tau sein, ein belebender Regen,
ausgegossen über das verbrannte, dürre Feld der abgewichenen Menschheit.
Man denke sich diese Demut, diese Liebe!
Der Herr will ein Tau sein, verheißt er. Das setzt also voraus, daß ein
taubedürftiger, verschmachteter Acker sich irgendwo befinde, in den er
befruchtend hereinbrechen will, und dieser Acker sind wir, insofern wir
seines Lebens noch nicht sind teilhaftig geworden. Da sucht man einmal
etwas Grünes in einer Seele, solange Jesus sie nicht grün gemacht hat!
Ach, es ist alles nicht bloß verwelkt, sondern verbrannt in der
Sündenhitze. Wie ist der schöne Garten verwüstet, den Gott in uns
pflanzte! Das Feuer der Empörung wider Gott hat das grüne Laubwerk,
weggefressen. Es ist eine Wüste, ein dürres Heideland, wo nur Drachen
und Ottern, gottwidrige Gedanken und Begierden Hausen.
Da suche man das schöne Gewächs der Gottesliebe, es ist ganz und gar
versenkt und abgestorben; da sehe man sich um nach dem Grün kindlicher
Zuversicht, herzlicher Andacht, inniger Gebetslust; da frage man nach
dem Blümlein Demut, ob’s noch dufte; nach dem Kräutlein Patientin, d. i.
Geduld, ob’s noch grüne; nach dem Jelängerjelieber, der
Gottesgemeinschaft, ob’s noch in der Blüte stehe; man frage nach der
Kraft, nach dem Drang, nach dem Trieb, Gottes Willen zu tun, und nach
dem himmlischen Sinn, nach dem Aufwärtstrachten! Ach, wo ist das alles
hin? Wie sind wir zur Wüste geworden! Im schrecklichsten Sinne ist an
uns in Erfüllung gegangen, was Jeremia sagt: „Herab von der
Herrlichkeit, du Einwohnerin, Tochter Dibon, und sitze in der Dürre."
Unsre Kraft ist vertrocknet, wie es im Sommer dürre und trocken wird. Es
ist nichts Grünes, es ist kein Leben in uns. Da bringe sich nur einmal
einer selbst zum Grünen! Die besten Mittel, die er dazu anwendet, sind
wie ein Wasser auf glühenden Sand vergebens ausgegossen, solange der
Wundertau Gottes nicht kommt. Da fasse man gute Vorsätze, da predige man
und lasse sich predigen, da lese man Gottes Wort und singe Lieder, da
suche man die Einsamkeit und fromme Gesellschaft, es ist alles nichts
und schafft kein Leben, solange es der Herr nicht tut. Es ist, wie wenn
es schneit, hagelt, taut und regnet auf die Pflastersteine der Gassen,
sie bleiben Steine. Aber der Herr kann aus Steinen dem Vater Abraham und
sich selber Kinder erwecken und die Wüsten blühen machen.
„Ich,“ spricht der Herr, „ich will Israel sein wie ein Tau.” Ach, das
ist ja gut, daß er es sein will. Der Tau pflegt in schwülen
Sommernächten zu fallen, wenn die Felder dürsten und schmachten. So
kommt auch der Tau Gottes, Christus, nur über durstige und schmachtende
Seelen. Geht heraus in die Natur an einem frühen Sommermorgen; seht, wie
es glänzt in den Tälern, und wie es liegt auf den Wiesengründen, wie ein
Meer von Perlen; aber auf den hohen Bergen ist der Tau nicht gefallen.
Darum wer des Himmelstaus Christi will innewerden, der werde zuvor ein
Tal, der schreie zu Gott wie David „aus der Tiefe“! „Der Herr ist hoch,”
heißt’s Psalm 138, „und sieht auf das Niedrige.“ „Bei den Elenden will
ich wohnen,” spricht der Herr. Zu welchen der Herr eingehen will als ein
belebender Tau, den macht er erst zu einem Grunde, zu einer Niederung.
„Alle Berge und Hügel sollen geniedrigt werden,“ spricht er bei Jesaja.
Er hat noch immer Lust zu Stall und Krippe; da will er ruhen. Wie fein
wußte er die Höhe zu niedrigen in der Samariterin! „Du hast fünf Männer
gehabt,” sprach er zu ihr, „und den du nun hast, der ist nicht dein
Mann.“ Da war sie zur Sünderin gemacht und ihre Augen niedergeschlagen,
und da sie recht klein war und recht gering von sich dachte und nichts
Gutes mehr in sich fand und sich nach einer Retterhand aus den Wolken
umsah, da hieß es zu ihr: „Siehe, ich bin’s, der mit dir redet!” Da gab
Jesus sich ihr zu eigen und kam über sie wie ein Tau, daß es zu grünen
und zu blühen anfing in ihrer Seele; da ward es lebendig und grün in
ihrem Herzen und ihrem Munde, in Wort und Tat, in Leben und Wandel; sie
war eine Pflanze zum Preise Gottes. So geht’s noch immer. Aus der Höhe
kommt der Gottestau, er zerreißt den Himmel und fährt herab, und wo er
Täler findet und tiefe Niederungen, ausgeleerte, arme, hilfsbedürftige
Herzen, da ist die Stätte seiner Ruhe, da breitet er sich aus, da gibt
er sich zum Erbteil. „Die Hungrigen,“ singt Maria, „füllt er mit Gütern
und läßt die Reichen leer.” Und wenn Joseph, Jakobs Sohn, in seinem
ganzen Leben „ein Vorbild Christi" war, so war er’s auch darin, daß er
in eine Grube geworfen ward, die leer war.
In stiller Nachtzeit fällt der Tau vom Himmel. Man hört kein Rauschen
und sieht kein Blitzen, aber am Morgen hängt er an den Blättern, und man
weiß nicht, woher er gekommen, noch wie er gebildet worden. So auch
Christus. Die Art und Weise seines Kommens ruht in Nacht verborgen. Wer
hebt den Schleier? Es pflegt auch dieses Kommen still zu geschehen und
geräuschlos und nicht mit Lärm und Gepränge, nicht mit Gesichten und
Wundererscheinungen, nicht mit Stimmen vom Himmel und sichtbarem Aufzug.
Ehe sich’s der seufzende und harrende Sünder versieht, heißt es zu ihm:
„Siehe, hier bin ich!“ Es ist kein Heer von Engeln in seine Kammer
hereingebrochen oder eine hörbare Stimme zu seinen Fenstern; er hat
keine Vision gesehen noch einen äußerlichen Lichtglanz wie die Hirten
auf Bethlehems Feldern; aber in seinem Innern heißt’s: „Ich verkündige
dir große Freude, denn dir ist heute der Heiland geboren.” Seinem Geiste
ist ein Zeugnis geworden, und das ist das Zeugnis, daß ihm Gott das
ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist in Christus, seinem
Sohne. Er wird im Gewissen überwiesen, daß auch er teilhabe an dem
offenen Gnadenbrunn des Hauses Davids. Er ward Christi als seines
Heilandes inne. Der Tau ist gefallen in stiller Nacht, wie, das weiß man
nicht. Aber der Sünder fühlt’s, daß er da ist, und wir sehen diesen Tau
auf ihm in allen seinen Worten und Gebärden, in seinem ganzen Tun und
Wesen. Der Tau des Feldes hat einen Hellen Schein an sich und ist mit
dem Licht verbunden, also auch unser Gnadentau Christus. Wenn er bei uns
eingegangen ist, dann wird es erst in allen Abgründen unseres
zerrütteten Wesens hell vor unsern Augen; und je mehr er unser wird und
je enger unsre Gemeinschaft mit ihm, desto mehr schließen sich uns die
Tiefen unsres Elends auf, desto gründlicher schauen wir hinab in unser
Nichts, in unsre Ohnmacht. Daher die Klage der Gläubigen: „Ach, was bin
ich, mein Erlöser? Täglich böser find’ ich meinen Seelenstand!“ Aber
gottlob, wie der Tau dasjenige bedeckt, worauf er fällt, so bedeckt auch
Christus unsern Jammer mit sich selbst, mit seiner Gerechtigkeit, die
einen weit lieblicheren Glanz hat als die Teppiche Salomos. Er bedeckt
uns ganz damit und wickelt und hüllt uns hinein, daß der Richter keine
Runzel noch Flecken mehr an uns wahrnimmt. „Es ist nichts Verdammliches
an denen,” sagt der Apostel, „die in Christus sind.“ Und o wie
befruchtend ist dieser Tau, welch ein Leben führt er hinein in die
Seele: das Tote macht er lebendig, das Wüste baut er, die Heide macht er
grünend und blühend. Welch eine Veränderung in der Natur bringt der Tau
hervor, wenn einmal nach langen, schwülen Sommertagen die Morgenröte
ihren Busen entfaltet und ihren Segen über die Felder ausstreut; da
sieht man nichts Welkes und Dürres mehr, da haben Gräser und Blumen
wieder ihre Häupter erhoben, da ist alles mit neuem Schmuck angetan wie
im Frühling. Und Geruch des Lebens durchweht die Gefilde. Aber noch viel
größer und herrlicher ist die Veränderung, die dann vorgeht, wenn der
Tau Gottes, wenn Christus über ein Herz, oder gar wie bei Kornelius,
über ein ganzes Haus sich ausbreitet. Wie jämmerlich, wie wüst und leer
sieht’s in einem Herzen, sieht’s in einem Hause aus, solange das noch
nicht geschehen ist! Welch ein armseliges, unerquickliches Getriebe; die
Welt nimmt alles ein, Herz, Sinn und Verstand! Die Gedanken flattern nur
um die Fleischtöpfe Ägyptenlands, die Wünsche und Hoffnungen kriechen
auf dem Bauch und essen Erde. Der Mund redet nur von Essen und Trinken,
von Geschäften und andern Dingen dieser Zeit. Das ganze Sein und Leben,
Treiben und Trachten, Tun und Lassen, Sichfreuen und Weinen, Hoffen und
Bangen, alles ist auf die Welt und ihren Kot gerichtet, alles ist
niedrig und gemein, ohne Gott, ohne Licht, ohne Himmelssinn und voller
Sünde. Die Engel können solchen Anblick nicht ertragen. Aber siehe, es
widerfährt dem Hause Heil. Christus, der belebende Tau, geht ein in die
öde Steppe. Nun komm und siehe, welche Umwandlung! Die Herrlichkeit des
Herrn erfüllt das Haus! Wie heilig ist die Stätte geworden! Verdrängt
ist der alte, eigensüchtige Sinn der Welt, und der stille Geist der
Demut und der Liebe ist an seine Stelle getreten, und der Wandel ist im
Himmel; verdrängt ist das irdische Getriebe, und den Gedanken, Wünschen
und Begierden sind Flügel gewachsen zum Ausflug. Man hat jetzt anderswo
seinen Schatz, anderswo ist darum auch das Herz. Man kennt jetzt andres
Brot und andres Wasser, und anders sind darum auch Durst und Hunger. Man
hat jetzt ein andres Interesse gewonnen, und anders ist darum auch die
Rede und Unterhaltung; sie ist gewürzt und geistreich, und geistlich
werden alle Dinge gerichtet. Und die Kammern duften vom Rauchwerk des
Gebets, der Lob- und Dankopfer, die Tag und Nacht vor dem Herrn
aufduften. Es war wüst und leer und finster auf der Tiefe. Nun aber ist
Licht hereingebrochen, und die Wüste blüht und steht herrlich. Das hat
der gemacht, der da spricht: „Ich will Israel wie ein Tau sein.”
Ach, daß er uns allen würde wie ein Tau! Doch merkt wohl: der Tau, so
köstlich er auch ist, kann auch den Feldern zum Verderben werden. Und
das geschieht, wenn er einen zu kalten Dunstkreis antrifft, dann
erstarrt er zu Reif und verwüstet das Gewächs. Und so ward auch der
köstliche Gottestau, Christus, schon manchen, so ward er, um ein
Beispiel anzuführen, dem Judas ein kalter Reif, ein erstarrend Eis. Die
Winterluft des Widerstrebens und der Widerspenstigkeit in Judas machten
ihn dazu. Alles, was Jesus tat mit Wort und Beispiel, mit Lockung und
Warnung, um sich bei Judas Eingang zu verschaffen, brachte die
entgegengesetzte Wirkung von Tau bei ihm hervor; es erbitterte und
verhärtete sein Herz nur mehr und mehr und diente nur dazu, seine
Verderbnis zur Reife zu bringen und seine Verdammnis und sein Gericht zu
beschleunigen. Das war nicht Christi, sondern Judas’ Schuld. Gott
bewahre einen jeden Menschen vor etwas Ähnlichem und verhüte, daß der
teure Tau vom Himmel, der allein das ewige Leben schaffen kann, in der
bösen Luft unsrer Seele uns nicht zum Reif, zum verderbenden Eise werde!
O es freue sich und lobe Gott, der die belebende, erquickende,
befruchtende Kraft des Taus an seinem Herzen erfahren hat und erfährt!
Und daß du sie nicht jeden Augenblick erfährst und daß du wohl Tage und
Wochen lang das Süße des Taus nicht recht spürst, — das müsse dich nicht
irremachen. Manchmal entzieht er sich dem Acker der Seele! Da hängt denn
das Gewächs der Liebe und des Glaubens, der Zuversicht und Freude ihr
Haupt; da ist kein Leben da zum Beten, Loben und Danken, da ist es
wieder dürr und jämmerlich. Aber harre nur: du sollst es in solchen
Zeiten noch gründlicher erfahren, wieviel an jenem Tau gelegen ist, und
wie er alles, alles tun und schaffen muß. Wenn seine Stunde gekommen
ist, so kommt er auch wieder zu dir und läßt dich wieder empfindlich
seiner wohltätigen Wirkungen innewerden. Und o welche Freude, wenn’s
nach langer, schwüler Zeit wieder taut und regnet! Da lernt man diesen
Tau erst recht preisen und wird es durch den Glauben inne, was der Herr
spricht: „Ich will Israel wie ein Tau sein."
Seine Braut, die Gemeinde oder gläubige Seele, unter dem Bilde einer blühenden Rose.
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Stellt sich Christus in unserm Text unter dem Bild eines Taus dar, so
vergleicht er seine Braut, die Gemeinde, oder auch die einzelne gläubige
Seele mit einer Rose. „Ich will Israel wie ein Tau sein, daß er soll
blühen wie eine Rose." Und auch diese Vergleichung ist tief und
bedeutsam.
Die Rose ist ein lieblich und herrlich Gewächs, den: kein andres
gleichkommt an wahrhafter Schöne und Lieblichkeit. Und wie die
Nachtigall unter den Vögeln, so ist sie unter den Blumen die beredtste
Lobpreiserin des Schöpfers. Sie klingt und singt nicht, noch rauscht sie
wie Elims Palmen und Libanons Zedern, und dennoch scheint sie zu keinem
andern Zweck gemacht zu sein, als daß sie den, der sie gemacht,
verherrliche. Und Israel, der Same dessen, der in die Länge lebt, ist
eine Rose in der großen Menschenwüste, zu Gottes Ehre und Ruhm
geschaffen und gepflanzt. „Der Herr hat Jakob erlöst,“ sagt der Prophet,
„und ist in Israel herrlich.” Paulus sagt in Epheser 1: „Gott hat uns
verordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch Jesus Christus, zu Lob
seiner herrlichen Gnade, durch welche er uns angenehm gemacht hat in dem
Geliebten.“ Die da glauben, sind sein Werk von der Wurzel bis zur Krone,
aus seinem Wasser und aus seinem Geist geboren. Sein Licht ist es, das
in ihnen widerleuchtet, seine Tugenden, die an ihnen sichtbar werden. Ja
alles, was Klares und Schönes an ihnen ist, ist Gottes, und nur das
Finstere gehört zu seinem Eigenen; das Urim und Thummim, Licht und
Recht, das sie auf der Brust tragen; der Herr hat es ihnen angehängt.
Darum heißt’s unter ihnen: „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem
Namen gib Ehre um deine Gnade und Wahrheit.” Die Macht seiner Gnade wird
sichtbar an den Wiedergeborenen zu seinem Preis. Paulus sagt: „Wir haben
aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die überschwengliche
Kraft sei Gottes und nicht von uns."
Gott der Herr hat einen wunderlichen Geschmack, sollte man sagen. Wer
sind doch die, die er seineRosen nennt auf Erden? Elende Leute,
zerschlagene Büßer, die nichts Gutes an sich finden, ein armes Volk,
unreines Gesindel, das sich um David sammelt in der Höhle, das selber
nichts hat als Unflat der Sünde; schwache, verzagte Menschen, die aus
eigenem Mut und Willen nichts wagen noch können, Lahme, Blinde, Krüppel,
Leute, die am Bettelstab gehen und auf der Gasse liegen an seiner
Schwelle und von den Brosämlein leben, die von seinem Tisch fallen, die
sind es. Und die Großen, Reichen, Starken und Herrlichen in der Welt,
die übersteht er und tritt mit seinem Fuß darauf wie auf Unkraut. Man
denke nur: ein Ehebrecher und Mörder wie David, ein Lazarus mit seinem
Aussatz, ein niedergeschlagener Zöllner im fernen Winkel des Tempels mit
seinem: „Gott, sei mir Sünder gnädig,“ ein Schächer oben am Kreuz: das
sind seine Rosen! Welch ein wunderlicher Geschmack! Aber freilich um
ihrer selbst willen sind sie es nicht, auch nicht um ihres bißchen Demut
und Frömmigkeit willen; sie sind es, weil sie in Christus erfunden
werden und bekleidet sind mit der Sonne seiner vollkommenen
Gerechtigkeit: „Durch seine Gnade hat er uns angenehm gemacht in dem
Geliebten.”
Die Rose hat einen süßen Geruch. Und der Herr spricht bei Hesekiel: „Ihr
werdet mir angenehm sein mit dem süßen Geruch, wenn ich euch aus den
Ländern sammeln werde.“ Und im Hohenlied heißt es von der Braut: „Deiner
Kleider Geruch ist wie der Geruch Libanons.” Das erinnert uns an Jakob,
als er dem Esau des Isaaks Segen wegnahm: er hüllte sich in Esaus
köstliche Kleider und nahte sich dem blinden Isaak. „Da,“ heißt es,
„roch Isaak den Geruch seiner Kleider und segnete ihn und sprach: Siehe,
der Geruch meines Sohnes ist wie ein Geruch des Feldes, das der Herr
gesegnet hat.” Eine ähnliche Bewandtnis hat es auch mit unserm guten
Geruch vor Gott. Wir duften ihm so lieblich, insofern wir vor ihn treten
in den schönen Kleidern unsers größten Bruders. Diese Kleider riechen
ihm wie Kezia und Narden, wie Duft der Lilien und Rosen.
Die Rose ist rot, und rot ist die geistliche Rose, in Rot gekleidet ist
die hohepriesterliche Braut, die Gemeinde der Wiedergeborenen. Paulus
sagt Hebr. 10, 22: „So lasset uns hinzugehen mit wahrhaftigem Herzen im
völligen Glauben, besprengt in unsern Herzen.“ Und im 12. Kap. des
selbigen sagt er den Gläubigen: „Ihr seid gekommen zu dem Blut der
Besprengung, das da Besseres redet den Abels.” Wie Mose das ganze Volk
besprengte mit dem Opferblut, so sind die Auserwählten mit dem Blut des
ewigen Hohenpriesters, ihres Osterlamms, gerötet, daß auch kein
Würgengel sie verderben kann. Rot ist ihr Glaube, denn er steht allein
auf dem versöhnenden Blut Christi. „Die Schilde seiner Starken sind
rot," sagt der Prophet Nahum. Das paßt auch auf die Gläubigen. Rot ist
ihre Hoffnung; denn aus dem blutigen Verdienst des Erlösers ist sie
hervorgekeimt. Rot sind ihre Gebete und Lobgesänge, im Blute des Herrn
gebadet, das heißt, im Vertrauen auf dieses Blut sich vor den Vater
wagend. Rot sind ihre Werke und Worte und Taten und Freuden, denn
Christi Blut ist ihre Quelle. Rot ihre Liebe, denn aus dem Blut des
Herrn ist sie geboren. Alles ist rot am Christen: er hat seine Kleider
gewaschen in dem Blut des Lammes. Mit seinem ganzen Wesen steht er ohne
Aufhören unter dem Gehorsam des großen Hohenpriesters, und was er tut
und treibt, er tut’s im Glaubensblick aufs Blut am Kreuz. So hat er auch
die Rosenfarbe neben dem Rosengeruch.
Wenn eine Rose ihre Röte verliert, so ist das ein Zeichen ihrer
Krankheit, ihres Welkens. Gleichermaßen verhält es sich auch mit dem
Christen. Wenn er aufhört, mit David zu seufzen: „Entsündige mich mit
Jsop!", wenn er versäumt, sich die Blutbesprengung geben zu lassen, wenn
ihm das Blut des Mittlers gleichgültiger wird und er wohl ohne dasselbe
dem Vater sich nahen zu dürfen meint, so ist es ein schlimmes Zeichen,
ein Zeichen, daß der Wurm des Stolzes sein Mark zernagt. Je röter, desto
besser, desto lebendiger! Je unentbehrlicher uns das Blut des Bundes
dünkt, desto besser steht’s mit unsrer Seele!
„Keine Rosen ohne Dornen.“ Und was sagt der Bräutigam im Hohenlied? „Wie
eine Rose unter den Dornen,” spricht er, „so ist meine Freundin unter
den Töchtern." Und welches sind denn die Dornen? Es sind die vielfachen
äußeren und inneren Leiden, von denen ein Erwählter ohne Aufhören in
dieser Welt umgeben ist. Aber also muß es sein. Diese Dornen sind ihm
ein Schirm und Schutz und wie ein Zaun um ihn her, die ihn fein demütig
und beim Herrn halten, die dem zerstörenden Gewürm der Hoffart und des
Leichtsinns den Weg versperren. Ohne seine Schwären hätte Lazarus so
schön nicht geblüht, und Paulus würde ohne den Stachel und Pfahl in
seinem Fleisch stolz geworden sein, und wenn die Gemeinde Gottes von
jeher recht im Gedränge war, so war ihr Glanz am hellsten, und ihre
ganze Schöne ward entfaltet.
Und nun merkt endlich auch noch darauf, wie die Rose wächst, woher sie
ihre Nahrung hat, und wie sie gedeiht! Ihr wißt, sie arbeitet nicht,
auch spinnt sie nicht, sie wiegt sich still im Strahl der Sonne und
eröffnet ihren Kelch dem Tau der Morgenröte, und daher duftet und blüht
sie am schönsten vor allen Blumen auf dem Feld und ist schöner gekleidet
als Salomo in aller seiner Herrlichkeit. Das soll uns zur Lehre sein.
Besseres können auch wir nicht tun. Mit unserm Rennen und Laufen ist
nichts getan. O wehe, wenn wir uns selbst erst ans Tun geben, uns selbst
unsern geistlichen Unterhalt erwerben, uns selbst betauen, stärken,
heiligen und verklären wollen. Das ist der Weg zum Tode. Unser Leben
steht darin, daß wir wandeln im Licht Jakobs, in der Gemeinschaft des
ewigen Morgensterns. Wohl dem Menschen, der keinen Trost weiß als die
Gnade des Bürgen und keine Nahrungsquelle als den offenen Brunnen des
Heils, den Born des Hauses Davids, daraus er täglich und stündlich nimmt
und schöpft! Wohl dem, der keine andre Sorge kennt als die, daß er in
jedem Augenblick stehe im Schein der Sonne der Gerechtigkeit, unter
deren Flügel himmlischer Genesung, aufzunehmen den Tau, der vom Himmel
träufelt, unter dessen Augen immer auf den großen Hirten der Schafe
wartet, daß er ihm seine Speise gebe zu seiner Zeit, seine Hand auftue
und ihn sättige mit Wohlgefallen, dem wird es nie an irgendeinem Guten
mangeln! „Sein Brot wird ihm gegeben, sein Wasser hat er gewiß." Willst
du also grünen, Israel, und blühen, entfalte in tiefer Bedürftigkeit den
Kelch deines Herzens der Gnadensonne Christus und schließ in Seufzen und
Beten den Talgrund deiner Seele dem Tau auf, der von oben fließt, so
wirst du sein wie eine Rose im Frühling, lieblich und frisch, voll
Wohlgeruchs; und zwischen den Blättern deiner Worte und Taten, deiner
Gebete und Lobgesänge wird man den ewigen Tau, der dich feuchtete,
funkeln und glänzen sehen.
O so komme denn der Herr auch über uns als ein Tau! An allen, die noch
ein dürres Gesträuch unter uns sind und in diesem Zustand zu nichts
anderm nütze, als daß es ins Feuer geworfen werde und verbrenne, an
denen allen tue er ein Wunder wie einst am Stecken Aarons, der auch in
sich verdorrt und abgestorben war, aber in einer Nacht durch des Herrn
Kraft grünte, blühte und Mandeln trug! Er schaffe unsre ganze Gemeinde
zu einem Rosenfeld. Und so oft er herabkommt zu uns, eine Seele zur
Ewigkeit zu rufen, müsse es im Himmel von ihm heißen, wie es heißt im
Hohenlied: „Siehe, unser Freund ist hinabgezogen in seinen Garten zu den
Würzbeeten, daß er weide in den Gärten und breche Rosen. Sein Reich und
seine Herde ist eine goldene Rose; sie blühe auf an allen Enden!" Amen.
Jsaschar oder Das Lager zwischen den Grenzen.
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1\. Mose 49, 14.15: „Jsaschar wird ein knochiger Esel sein und sich
lagern zwischen den Hürden. Und er sah die Ruhe, daß sie gut ist, und
das Land, daß es lustig ist; da hat er seine Schultern geneigt, zu
tragen, und ist ein zinsbarer Knecht geworden."
In dem Segen Jakobs, dem die verlesenen Worte entnommen sind, liegen
wunderbare Dinge verborgen. Zunächst handelt sich’s hier allerdings um
äußere Verhältnisse der zehn Stämme und um Dinge dieser Zeit. Aber hat
man erst den Spaten des Geistes etwas tiefer eingesetzt und die
Oberfläche durchstochen, so stößt man auf eine Goldlage geistlicher
Sachen und Wahrheiten, daß man anfangs seine Not hat, all den Reichtum
nur zu überschauen und gehörig vor sich auseinanderzulegen.
Als wir vor 14 Tagen mit unsrer Betrachtung nur bei einigen Worten der
merkwürdigen Verheißung verweilten, die dem Juda gegeben ward, da ahnten
wir schon, über welchen Schächten wir standen, und es klang gleichsam
hohl unter unsern Füßen. Heute haben wir uns nun wieder auf demselben
Grund und Boden zusammengefunden, mit Hilfe des Heiligen Geistes Silber
und Gold zu graben, wo freilich dem ersten Anschein nach nur Heu und
Stoppeln zu finden sind. Sehen wir auf den Jsaschar nach dem Fleisch,
den fünften Sohn Jakobs von der Lea, so sind wir mit der Erklärung
unsrer Textesworte bald fertig. Es wird darin dem Jsaschar geweissagt,
er werde ein arbeitsamer Landmann werden und sein Stamm ein
ackerbauendes Geschlecht. Aber es gibt auch einen geistlichen Jsaschar.
Wollte Gott, daß seine Hütte in unsrer Gemeinde nirgends anzutreffen
wäre. Diesem Jsaschar nach dem Geist, dessen wohlgetroffenes Bildnis
sich in unserm Text uns darstellt, wollen wir in gegenwärtiger Stunde
einmal näher unter die Augen sehen.
Wir sehen:\
1. wo er sich lagert,\
2. wie er in dies Lager hineingeraten ist, und\
3. welchen Mühen und Gefahren er in demselben unterworfen ist.
Wo er sich lagert
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Jsaschar ist ein knochiger Esel. Welch ein wunderlicher Name! Der flößt
schon nicht das beste Vorurteil ein. Juda heißt ein junger Löwe; das
klingt schon angenehmer. Naphthali wird eine schnelle Hindin genannt,
Joseph ein Ölbaum am Quell, dessen Zweige über die Mauer schreiten,
Jonathan ein Adler, Sulamith eine Taube, Israel eine Rose. Das hat alles
schon einen schönern Schall. Aber ein knochiger Esel, da sollte man ja
schon beim Klang des Namens alle Lust verlieren, mit der Person, die er
bezeichnet, in nähere Bekanntschaft zu treten. Und doch, wer weiß, wie
mancher von uns selber unter jenem widerlichen Namen in den Registern
Gottes eingeschrieben steht! Aus welchem Grund Jsaschar so heiße, werden
wir sehen, wenn seine geistliche Gestalt sich uns erst enthüllt hat.
Wo finden wir Jsaschar? Zwischen den Grenzen. „Jsaschar,“ heißt es,
„wird ein knochiger Esel sein und lagern zwischen den Grenzen.” O weh,
mit diesen Worten hat der Erzvater seinen Sohn schon übel empfohlen. Ja,
wenn es nur noch hieße: „Er wandert zwischen den Grenzen,“ so dürfte man
noch sagen: warte nur ein wenig, so ist die Grenze überschritten und das
Gelobte Land gefunden. Aber nein! Er hat sich gelagert, dadurch wird die
Sache um so viel schlimmer. Zwischen den Grenzen lagern oder liegen, ist
immer schon ein übler, unglückseliger Stand. Wie schrecklich richtet der
Herr die Leute, die mit ihrem Herzen so zwischen Wärme und Kälte in der
Mitte schweben: aus seinem Mund will er sie speien, diese Lauen! Er sähe
lieber, daß sie das eine oder andre wären, warm oder kalt; das
Mittehalten ist ihm verhaßt. Wie beurteilt er diejenigen, die weder zu
seiner Fahne noch zu derjenigen der Welt schwören mögen und ihn zwar
nicht verwerfen, aber auch für ihn sich nicht entscheiden wollen,
sondern so zwischen beiden Parteien, seinen Feinden und Freunden,
schmiegsam in der Mitte schweben? Er erklärt sie geradezu als seine
Feinde und will sie als solche behandeln: „Wer nicht für mich ist, der
ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.” Und wenn
er heutzutage seine Kirche besuchte und sähe, wie Tausende von denen,
die für seine Boten angesehen sein wollen, mit ihren Predigten zwischen
die Grenzen seines lautern Evangeliums und die einer selbsterfundenen,
von Gott entfremdeten Menschenweisheit sich gelagert haben, was würde er
sagen? Ich sehe die Worte auf seinen Lippen liegen: „Ach,“ würde er
seufzen, „daß ihr gläubig wäret oder ungläubig! Nun aber seid ihr keins
von beiden.” Ja, völlig ungläubig wäre noch besser als dieses unselige
Mittelding und dieses Hangen zwischen beiden.
Wo lagert denn nun Jsaschar, der geistliche nämlich, und sein Stamm, und
zwischen welchen Grenzen hat er seine Hütte aufgeschlagen ? Jsaschar
gehört eigentlich nicht zu denen, die weder kalt noch warm sind; auch
nicht zu denen, die weder für sind noch wider, weder christlich noch
heidnisch; Jsaschar ist für, Jsaschar ist sogar in einem gewissen Sinn
gläubig, ja er scheint im Reich Gottes zu lagern, und doch steht es sehr
schlimm mit ihm. Er liegt fest zwischen Kanaan und Ägypten, zwischen dem
Stand eines bekehrten und dem eines unbekehrten Menschen. Man kann ihn
wohl nicht unter die Weltmenschen rechnen, aber noch viel weniger unter
die Kinder Gottes. Man darf ihn nicht mehr mit dem unschlachtigen und
verkehrten Geschlecht dieser Welt in einen Rang und eine Ordnung
stellen, aber noch weniger ist er zu dem auserwählten Volk, dem
königlichen Priestertum zu zählen. Er hat sein Lager zwischen den
Grenzen des Gnadenreiches und denen des Reiches Belials mitteninne. Er
wird in diesem unglückseligen Zwischenzustand mit den Bürgern des
erstern Reiches nimmer zu Tisch sitzen; aber mit den Bürgern des andern
wird er verderben und verbrennen.
Treten wir nun unserm Jsaschar ein wenig näher, daß seine äußere und
innere Gestalt sich uns ganz enthülle. Seine äußere Erscheinung, sein
Leben und Treiben, hat wirklich einen schönen Schein und eine gute Farbe
und flößt die besten Vorurteile für ihn ein. Meinst du, daß du ihn
fändest im Rat der Gottlosen und auf dem Weg der Sünder oder da die
Spötter sitzen? Nein; da ihn suchen wollen, das hieße ihm schweres
Unrecht tun; aus diesem Sodom ist er längst schon ausgegangen und hat
sich abgesondert. Er opfert nicht mehr auf den Höhen und in den Hainen,
und die Versammlungen derer, die Unrecht saufen wie Wasser, ein Greuel
und schnöde sind, sind ihm gar verhaßt und widerlich. Du findest ihn
nimmer in Schenken und Kammern noch auf den Schand- und Greuelplätzen,
wo die tolle, blinde Welt, wie vom Schwindelgeist ergriffen, in
unbändiger Lust hintobt und taumelt, und wo die Leute tanzen zum Schall
der Pfeife, die der Satan ihnen bläst. Er hat nichts gemein mit denen,
die zur Losung haben: „Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir
tot,“ und liegt nicht mit den Säuen am Trebertrog. Auch darfst du ihn
nicht finden wollen unter den moralischen Leuten, die zwar ehrbar
wandeln und bürgerlich rechtschaffen, aber von einem göttlichen und
gottesdienstlichen Leben nichts wissen mögen, in ihrer Ehrbarkeit volle
Genüge habend; die Gottes Wort und Reich, Sakrament, Gebet und Opfer wie
alte, vertragene Lumpen und Lappen weit von sich werfen, darüber die
Nase rümpfen als über ein Spielwerk der Kindischen und Schwachen. Nein,
unter den Stillen im Land, unter den Gottesdienstlichen mußt du Jsaschar
suchen; wo man predigt vom Namen des Herrn, wo das Panier des Kreuzes
hochgehalten wird, wo man bekennt zur Ehre des Vaters, daß Christus der
Herr sei, wo man das Wort reichlich unter sich wohnen läßt und sich
ermahnt mit lieblichen und geistlichen Liedern und heilige Hände
ausstreckt gen Himmel, wo man weidet auf den grünen Auen der ewigen
Offenbarung und aus der lebendigen Wasserquelle der gewissen Gnaden
Davids Leben und volles Genüge trinkt: da ist er zu finden, da hat
Jsaschar seine Hütte und sein Zelt; er wohnt unter den Heiligen, und in
ihren Versammlungen ist er anzutreffen. Wie, so wäre Jsaschar ein
Heuchler? Ei behüte, das kann man gar nicht sagen. Die Heuchler machen
wieder ein ganz besonderes Völklein aus. Diese Pharisäerzunft liegt ja
nicht zwischen den Grenzen, sondern ist noch mitten in Ägypten. Aber
wenn Jsaschar zur wahren Kirche sich hält und zu den Kindern Gottes, mit
denen die Welt nichts mag zu schaffen haben, und das ohne Heuchelei und
mit Aufrichtigkeit, was fehlt ihm denn noch? Ach, gar viel, ja alles,
was wesentlich zum wahren Gnadenstand gehört. Er lebt in der
Gemeinschaft der Heiligen, das ist wahr, aber nur äußerlich, nicht im
Geist und in der Wahrheit. Er ist kein Glied an dem heiligen Leib,
dessen Haupt Christus ist; wohl äußerlich mit ihm verknüpft, aber nicht
wesentlich ihm einverleibt. Er ist kein Zweig an dem großen Zedernbaum;
er hat wohl einiges Vergnügen in seinem Schatten, aber er ist ihm nicht
also eingepfropft, daß er aus seinem Saft und Leben grünte und blühte.
Er ist keine Rebe am göttlichen Weinstock; wohl ihm angebunden äußerlich
mit irgendeinem menschlichen und verweslichen Band, so wie die Früchte
etwa, die man an die Christbäumlein bindet, zur Freude der Kinder, aber
nicht lebendig im Geist mit ihm verwachsen. Sehen wir auf seinen
Verstand, da ist nicht ägyptische Finsternis mehr und Gewirr von
kräftigen Irrtümern. Nein, er ist reich an Erkenntnis des Heils, weiß
vielleicht den Katechismus mit Haupt- und Nebenfragen und die halbe
Bibel auswendig, eine Menge schöner Lieder dazu und viele Historien der
Erweckten und Wiedergeborenen. Aber was ist’s? Lauter selbsterrungenes
und selbstgemachtes Wesen, erarbeitetes Gut und eitel Menschenwerk. Er
hat sich’s angelesen und angehört, hat sich’s von Menschen antun,
anpredigen, angewöhnen lassen. Aber der Heilige Geist hat keinen Anteil
an seiner Erleuchtung, er ist nicht von Gott gelehrt: darum liegt auch,
was er so verschluckt hat, als ein totes Kapital in ihm, das keine
Zinsen trägt; die Speise ist unverdaut geblieben und nicht zu Saft, Blut
und Leben geworden, und seine Narde gibt keinen Geruch. Sehen wir auf
seinen Wandel, so ist eigentlich nichts dagegen zu erinnern. Jsaschar
steht untadlig da vor Menschenaugen, lebt still, zurückgezogen,
häuslich, ist ehrsam, fleißig, ordentlich, hält sich nur zu christlichen
Freunden und verschmäht die Lustbarkeit der Welt. Aber ist das nun der
Wandel, den Gott meint, wenn er spricht: „Ich bin der Allmächtige,
wandle vor mir und sei fromm,” und den Jesaja meint in dem Aufruf:
„Kommt ihr nun, vom Hause David, laßt uns wandeln im Licht des Herrn,“
auf den der Apostel hinweist in den Worten: „Unser Wandel ist im
Himmel,” und in dem andern Spruch: „So wir im Geist leben, so laßt uns
auch im Geist wandeln?" Ist Isaschars Wandel eine Frucht des Heiligen
Geistes, ein aus dem Boden des neuen Herzens entquollenes, klares
Bächlein? Ach, was wollte er sein? Er ist teils die Frucht einer guten
Erziehung und Gewöhnung oder eines guten Umgangs; teils eine
selbsterwählte Geistlichkeit, eine angearbeitete, selbsterworbene Güte,
ein Werk, zu dem der Heilige Geist sich nimmermehr bekennen wird, weil
er wirklich nicht den geringsten Anteil daran hat. Sehen wir auf
Jsaschars gottesdienstliches Leben, siehe, auch da tritt alles angenehm
in die Augen. Aber diese Gebete, die er täglich darbringt, diese Lieder,
die er singt in der großen Gemeinde oder daheim mit den Seinen, sind die
das Räuchwerk nun von Gott zuvor gegeben und dann ihm wieder
zurückgeopfert als seine Gabe, entzündet im Feuer des Heiligen Geistes
und in der Schale eines tiefgebeugten, zerbrochenen Herzens dargelegt,
so wie es dem Herrn allein lieblich duftet? Ach nein, es ist wieder
eigene Fabrikation. Isaschar betet, weil er beten will, nicht weil er
beten muß; es betet Isaschar, aber nicht Christus und sein Geist in ihm.
Wie unglücklich ist seine Lagerstätte zwischen den Grenzen! Er ist ein
Christ, ohne wiedergeboren zu sein; er erkennt das menschliche Verderben
an, ohne sein eigenes noch gefühlt zu haben; er ist gelehrt in
geistlichen Dingen, ohne erleuchtet zu sein; er glaubt an Jesus, ohne
wahres Bedürfnis nach ihm zu haben; er rechnet sich zu den Heiligen und
ist doch keiner; er weiß vom Gnadengang zu zeugen und ist noch selber
nicht hineingekommen; er denkt, er lebe und wandle ganz nach
Christenweise, und ist doch nach Geist, Herz und Seele nichts mehr und
weniger als ein natürlicher Mensch, der innerlich durchaus noch keine
wesentliche Veränderung erlitten hat, der nicht das geringste aufweisen
kann, was der Geist in ihm gewirkt und geschaffen hätte, sondern der
sich auf eigene Hand ins Christentum selbst hineingezwängt und
gearbeitet hat. Es ist nicht der neue Adam in ihm geboren, sondern der
alte ist in ihm fromm geworden, und das ist übel. So ist Isaschars
Stand. Nicht in Ägypten mehr, aber auch nicht in Kanaan; aus der Welt,
in einem gewissen Sinn wenigstens, ist er ausgegangen, aber noch lange
nicht ins Reich der Gnade eingetreten. Christliche Form und
evangelischer Zuschnitt in Denkart, Wort und Wandel; aber es fehlt das
Leben aus Gott, das neue Herz. Isaschar hat sich gelagert zwischen den
Grenzen.
Wie er in dies Lager hineingeraten ist.
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Wie aber ist er nun in diese Lagerstätte hineingeraten? Unser Text sagt
uns kurz und treffend: „Er sah die Ruhe, daß sie gut ist, und das Land,
daß es lustig ist." Was Isaschar ist, er ist’s nicht durch des Vaters
Zug, nicht durch den Ruf der Gnade noch durch des Heiligen Geistes
Anfassung, Werk und Arbeit; er ist es geworden durch eigene Wahl, durch
die Einsprache seines eigenen Geistes und auf Antriebe nicht sowohl von
seiten Gottes, als viel mehr von seiten seines eigenen, natürlichen
Herzens. Hat ihn der Sündenschmerz zum Evangelium getrieben, der
Rauchdampf Sinais, der Donner Ebals, das Schmachten nach Erlösung, das
ängstliche Sorgen für seiner Seele Heil und Rettung? Ach nein, das kann
man gar nicht sagen. Ganz andre Gelüste und Vorteile trieben und zogen
ihn, ein Christ zu werden.
„Er sah die Ruhe an, daß sie gut ist.“ Was für eine Ruhe war das? Die
Sabbatruhe in Christus, der Friede mit Gott, das Lager im Verdienst des
Mittlers, das Entbundensein von Fluch und Sünde und das Ausruhen vom
mühseligen Werkdienst im Gesetzwesen? Ach nein, eine ganz andre Ruhe
war’s, die unsern Isaschar anlockte und nach welcher ihn gelüstete. Er
sah das Land an, daß es lustig ist. Was für ein Land? Das schöne Land,
das helle droben, zu welchem Jesus Weg und Pforte ist, oder das
Gnadengebiet, wo man von seinem Tau und Sonnenschein lebt? Gelüstete ihn
darnach? Fühlte er dahinein ein verborgen Heimweh? Nein, das läßt sich
auch nicht wohl von Isaschar rühmen. Es war im Grund doch etwas andres,
was ihn lockte. Und was denn namentlich? Nun, bald ist es dies, bald
jenes, was in den mißlichen Stand und in das Zwischenlager Isaschars
hineinführt. Dieser fühlt sich durch die Eintracht angezogen und durch
die gegenseitige Liebe, die er unter den Stillen im Land antrifft. Er
hat vielleicht schmerzliche Erfahrung gemacht von der Falschheit der
Welt und ihrer Tücke, wie sie weder Treue hält noch Glauben und voll
Grolls und Haders ist, hat Freunde gesucht und sich bitterlich betrogen
gefunden. Da fällt sein Auge auf die Gemeinde der Gläubigen, wie sie ein
Herz sind und aneinanderhangen mit Liebe und Treue und sich gegenseitig
dienen, wie Brüder den Brüdern. Das gefällt ihm wohl. Er sieht die Sache
an, daß sie gut ist, und sein Schluß steht fest, er schlägt sich zu den
Frommen. Jener hat von Natur ein weich Gemüt, ist leicht bewegt, liebt
feierliche Szenen und Auftritte und die angenehmen Rührungen, die sie
hervorbringen. Da gefällt ihm denn das Leben der Kinder Gottes, ihr
gottesdienstliches Treiben, ihre lieblichen Gesänge und Gebete. Er sieht
an das Land, daß es lustig ist, und faßt so aus dem Eigenen den
Gedanken: „Hier ist ist gut sein; hier wollen wir Hütten bauen.” Dieser
hat von Natur Geist empfangen und Trieb zum Denken und Forschen; mit
diesem Trieb fällt er auf die Schrift: hier findet er Nahrung in Fülle,
hier kann er seine Denkkraft und seinen Scharfsinn üben. Mit dem
lebendigsten Interesse gibt er sich ans Lesen und Durchforschen, und
seine Freude ist’s fortan, nur unter solchen zu wohnen, denen dasselbe
Buch zum Haus- und Lebensbuch geworden ist; er findet Lust an
wechselseitigem Austausch christlicher Meinungen und Ansichten und an
biblischen Unterhaltungen und Gesprächen; er schließt sich aus eigener
Wahl den Kindern Gottes an, ohne den Samen der Wiedergeburt aus diesem
Wort in sein Herz aufgenommen zu haben. Jenen, von Natur mit einem regen
Sinn fürs Schöne begabt, ergötzen die erhabenen Geschichten, die
reizenden Schilderungen, die glänzenden Bilder und Gleichnisse, die
lieblichen und rührenden Auftritte, von welchen die Schrift so voll ist.
Er liest das heilige Buch mit feuriger Begeisterung, aber freilich mit
keiner andern als mit der, mit welcher er auch die gleißenden
Erzeugnisse weltlicher Dichter liest, und er hält sich zu den Christen
um des ästhetischen Genusses willen; von Bekehrung ist hier nicht die
Rede. Der macht die Bemerkung, daß in den Häusern der Frommen doch
unendlich mehr Ordnung und Eintracht wohne als in denen der Weltkinder.
Der Friede, der hier waltet, und die Stille, die Liebe und der stete
Frohsinn, dann auch der Segen, der kein Ende nimmt, und der gute
Fortgang der Geschäfte, o wie ihm das alles gefällt und wohltut, zumal
wenn er auf den großen Abstand hinblickt, in welchem sein Haus zu diesen
Häusern steht. Er sieht diese Ruhe an, daß sie gut ist. „Ich bin des
ewigen Lärmens und Zankens müde,“ denkt er, „es soll nun auch in meinem
Hause anders werden: auch ich will das Christentum einführen;” und er
führt es ein. Es wird gelesen, gesungen, gebetet; man lärmt, man
schwatzt, man tobt nicht mehr, und siehe, das Haus ist nun neugeboren.
Ach ja, das Haus, nur leider nicht das Herz. Der Leib ist da und die
Form, aber es fehlen Geist und Leben; der Mensch ist aus der Welt
hinweg, doch ach, die Welt ist darum noch nicht weg aus ihm. Der Rock
ist gewechselt, aber die Person ist dieselbe geblieben.
Seht, meine Brüder, so wird man ein Isaschar, zwischen den Grenzen
gelagert. Man sieht die Ruhe an, daß sie gut ist, und das Land, daß es
lustig ist. Es ist nicht das Verlangen nach Versöhnung, nicht der Hunger
und Durst nach Gerechtigkeit und den Gnadenströmen des Heiligen Geistes,
was einen zum Evangelium getrieben. Nein, der Vorrechte, deren sich die
Kinder Gottes auch für dieses Leben schon erfreuen, möchte man auch gern
teilhaftig werden: da wird man denn fromm aus eigener Wahl, still,
zurückgezogen und gottesdienstlich durch selbstische Bemühungen. Man
ergreift das Christentum, wie man ein Gewerbe, eine Wissenschaft oder
eine Kunst ergreift, und man weiß sich alles anzueignen, was zum
Christenwesen gehört. Nur zwei Sachen fehlen und mit ihnen alles, was
das eigentliche Wesen der Kinder Gottes ausmacht: das zerbrochene Herz,
in welchem der Herr allein wohnen will, und der Geist, von dem es heißt:
„Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein." Isaschar, ach
unglückseliger Isaschar, der du zwischen den Grenzen lagerst und also
die Ruhe ansiehst, daß sie gut ist, und das Land, daß es lustig ist, das
Land jenseits des Jordans wirst du nicht erben und nicht mitfeiern den
ewigen Sabbat!
Welchen Mühen und Gefahren er in demselben unterworfen ist.
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Isaschars Lager kennen wir und wissen auch, wie er hineingekommen.
Werfen wir nun auch noch einen Blick auf die geistlichen Mühseligkeiten,
die sein Stand zwischen den Grenzen herbeiführt, und auf die
schrecklichen Gefahren, die ihn von allen Seiten umlagern. Seinen Pein-
und Notstand schildert uns der Text: „Er neigte seine Schultern zum
Tragen und ward ein zinsbarer Knecht.“ Er neigte seine Schultern zum
Tragen. Es liegt also eine Last auf ihm, unter der er seufzt und ächzt,
und diese Last ist — seine Sünde etwa? O wollte Gott, daß die ihn erst
drückte, bald würde es besser mit ihm stehen. Diese Last ist sein
Christentum, in das er sich aus eigener Wahl hineingezwängt. Unser
Heiland sagt zwar: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht,”
aber davon kann Isaschar nicht viel verspüren. Ich denke hier an ein
Wort des Propheten Jesaja: „Zu der Zeit“, spricht er (Kap. 10, 27), zur
Zeit des Neuen Bundes nämlich, „wird die Last von deiner Schulter
weichen müssen und das Joch von deinem Halse; denn das Joch wird
verfaulen oder verderben vor dem Fett.” Das Joch gleitet ab, wenn der
Nacken mit fettem Öl bestrichen ist. Und wenn wir mit dem Öl der Gnade
und des Heiligen Geistes gesalbt sind, dann weicht die Last von unsern
Schultern, dann sind Gesetz und Gottesdienst uns kein drückend Joch und
keine Bürde mehr, sondern ein leicht und froh Geschäft, eine Lust und
Freude. Aber Isaschar ist ungeölt, und darum sind seine Schultern
geneigt und gesenkt zum Tragen. Er ist ja nicht von denen einer, die mit
dem Gefäß eines in Buße und Hilfsbedürftigkeit aufgeschlossenen Herzens
zum Herrn Jesus gehen und sich aus seiner Fülle Kraft und Gnade
schöpfen. Isaschar hat sich selbst bekehrt und will nun auch auf eigene
Kosten und durch eigenes Bemühen heilig werden und nach Christenweise
wandeln. Er will’s den andern nachmachen, will auffahren wie sie und
denkt nicht daran, daß ihm die Flügel fehlen; er will wie sie singen und
beten, und es mangelt ihm doch Drang, Lust und Odem; will’s ihnen
gleichtun im Laufen und Springen und hat sich doch die lahmen Füße noch
nicht heilen lassen; will das Gesetz erfüllen, doch ach, wo hat er das
Zeug dazu und die Liebe, Freudigkeit und Stärke? O weh, welch ein
Frondienst, unter dem er keucht; wie quält er sich so vergeblich ab mit
seinen selbsterwählten Gottesdiensten, dem Eigenwerk seiner Heiligkeit.
Mühe ohne Furcht, Arbeit ohne Lohn! „Isaschar hat seine Schultern
geneigt zum Tragen.“ Und was ist er? „Ein zinsbarer Knecht,” sagt der
Text. Welch eine treffende Benennung! Ach ja, seine Morgen-, Tisch- und
Abendgebete, seine Lieder und frommen Übungen, was sind sie anders als
Zinsen, Steuern, die er täglich darbringen zu müssen meint und die er
bringt, nicht wie ein Kind fröhlich und willig, sondern wie ein Knecht,
mühsam und gezwungen, eigentlich mit einer innerlichen Not und einem
heimlichen Widerstreben? Der Geist der Gnaden und des Gebets ist ja
nicht über ihn ausgegossen! Alles, was Isaschar darbringt, ist mühsam
herausgeschraubtes, erquältes, selbstgemachtes Menschenwesen. Er steht
ja in keiner wahren Verbindung mit dem, der das Leben ist. Von den
Wiedergeborenen fließt’s frei aus, wie Wasser aus der Quelle. Isaschar
aber ist ein trockener Brunnen, wie soll’s da fließen? Ist die
festgesetzte Stunde gekommen, so muß der Gebetsschilling dargebracht
werden; da wird er denn schnell mit viel Beschwernis gemünzt und vor
Gott hingeworfen. Aber diese Münze hat ein schlecht Gepräge, und weil
sie nicht des zweiten, sondern des alten Adams Bild trägt, fällt sie
nimmer in Gottes Schatzkammer. Seht, so ist Isaschar: kein Kind im
Hause, sondern ein armer, zinsbarer Knecht, der nichts hat und doch
zahlen muß und noch obendrein mit einer Münze zahlt, die ihm als falsch
wieder vor die Füße geworfen wird. Und weil er solch ein Lastträger ist
und so dahin seufzt unter dem Joch seines selbsterwählten Gottesdienstes
und unter dem treibenden Stecken des Gesetzes mühevoll sich abquält ohne
Munterkeit und Leben, darum heißt er: ein knochiger Esel.
Und o, in welchen Gefahren schwebt diese arme Seele! Es wird einem angst
und bange, wenn man daran gedenkt. Da meint solch ein armer Mensch in
seiner Blindheit, er sei nun wirklich im Reich Gottes drinnen, und ach,
er gehört doch so gut zu denen, die draußen stehen, wie die rohsten
Weltmenschen. Es ist ihm so ziemlich gelungen, sein Leben äußerlich dem
Leben der wahren Kinder Gottes gleichförmig zu machen, und so liegt er
denn nun in der unglückseligen Täuschung, auch er sei ein Gotteskind.
Dazu kommt denn oft noch, daß er auch von den Gläubigen, mit welchen er
verkehrt, dafür gehalten und anerkannt und als einer ihresgleichen
behandelt wird, und das bestärkt ihn noch in seinem Wahn und macht ihn
desto blinder, desto sicherer in seinem Lager zwischen den Grenzen. Der
arme, der bedauernswerte Mensch! Er meint, er wohne in Kanaan und hat
sein Zelt nahe bei Tophet und am Abhang des Würgetals. In Jerusalem
träumte er zu sein, und ach, er hat sich gelagert nicht fern vom Toten
Meer, von Adama und Zeboim. Und wenn der Herr kommt mit Feuer und
Schwefel, er kann Isaschar nicht verschonen, und wenn ihm das Herz gegen
ihn bräche vor Mitleid, in diesem Lager zwischen den Grenzen muß er ihn
verzehren und seine Seele hinwegraffen mit den Gottlosen.
O so trete denn vor Gott, wer unter uns sich in Jerusalem glaubt, und
seufze mit David: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe
mich und erfahre, wie ich’s meine, und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege!“ Wißt, am Jüngsten Tag wird nichts
gelten, als was der Heilige Geist in uns gezeugt und geschaffen und
ausgewirkt. Alles Selbst- und Menschenwerk wird verbrennen wie Heu. Alle
selbsterwählte Geistlichkeit und Gottesdienste, alle selbstgemachte
Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Heiligkeit, das alles wird für Null
gerechnet werden und in den Flammen aufgehen. Da wird nicht gefragt
werden nach der Erkenntnis, die ihr aus Katechisationen und Predigten
herausgebracht, sondern was ihr gelernt habt in der Schule des Heiligen
Geistes. Da wird nicht gefragt, wieviel ihr gebetet und gesungen,
sondern ob ihr sangt und betetet im Geist und in der Wahrheit, im Namen
des Herrn Jesus Christus. Da wird nicht geforscht werden, ob ihr auf
Erden mit den Gläubigen in Verbindung standet, aber ob ihr in Verbindung
standet mit dem, der das ewige Leben ist, und wirklich verwachsen waret
mit dem Haupt, darnach wird man forschen. Ach, es mögen der
unglücklichen Isaschars viele in der Welt herumgehen, die zwischen den
Grenzen lagern und aus diesen und jenen Gründen sich selber fromm
gemacht oder allein durch Menscheneinfluß sich haben fromm machen
lassen, ohne daß der Geist Gottes den geringsten Anteil hat an ihrer
Frömmigkeit. Gott wolle ihnen gnädig sein und ihnen die Augen auftun!
Viele mögen umhergehen, selbstbetrogen und verblendet über sich selbst
durch den guten, evangelischen Schein, den sie sich angeeignet. Die
Decke ist da; aber wo ist unter der Decke der zerschlagene Geist, wo das
zerbrochene Herz, wo der Same der Wiedergeburt, wo die neue Kreatur, wo
das wahrhaftige Dürsten nach dem Blut Jesu, wo alles dieses, das, vom
Geist gewirkt, allein den Christen ausmacht? Es fehlt, und die arme
Seele weiß es nicht. Ach, der barmherzige Gott bewahre uns vor solchem
schrecklichen Betrug, der ewiges Verderben in sich schließt. Er scheuche
uns auf mit Donner und Posaunen aus dem Unheilslager zwischen den Genzen
Ägyptens und Kanaans und verhelfe uns allen dahin, daß wir in Wahrheit
mit Hiob sagen können: „Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem
des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben.” Amen.
Das Mutterherz Gottes.
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Jesaja 49, 14-16: „Zion aber spricht: Der Herr hat mich verlassen; der
Herr hat mein vergessen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen,
daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie
desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen. Siehe, in
die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir."
O welch ein Wort, welche unvergleichliche Zusage! Siehe, ein Obstbaum am
Quell, von dem schon viel tausend Pilger sich goldene Frucht geschüttelt
von alters her, und er grünt und blüht und trägt auch heute noch, und
seine Blätter welken nicht. Schüttle ihn nur, betrübte Seele; hier
regnet’s Manna. Laßt uns diesen göttlichen Ausspruch näher betrachten,
und zwar:
1\. Zions Bau,\
2. Zions Klage,\
3. Gottes Zuspruch.
Zions Bau.
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Zion, so heißt in unserm Text die wahre Kirche, die Taube Gottes, aus
Wasser und Geist geboren. Anderwärts wird sie Jerusalem genannt und sehr
häufig, wie ihr wißt, einer Wohnung, einer Hütte, kurz, einem Gebäude
verglichen, wie auch Petrus sagt: „Und auch ihr, als die lebendigen
Steine, baut euch zum geistlichen Hause." — Ein reiches und umfassendes
Bild der wahren Gemeinde.
Fragen wir zuvörderst nach dem Baumeister, so findet sich’s: es ist nur
einer. Der Zimmermann der Welt ist auch der Gründer seiner wahren
Kirche, welche die Stadt seines Stiftes heißt. Der Plan dazu ist älter
als die Welt. Ehe noch etwas war, stand er schon auf dem Pergament des
göttlichen Ratschlusses vollständig verzeichnet. Die Höhe, Weite und
Breite des Gebäudes war genau vermessen, die Zeit, binnen welcher es zur
Vollendung kommen sollte, genau berechnet, Ziegel und Steine gezählt und
die Örter bestimmt, wo sie würden gebrochen werden. Vor sechstausend
Jahren hatte Gott mit dem Bau den Anfang gemacht, und er ist noch am
Bauen bis aus diesen Tag, genau nach dem ewigen Plan und Grundriß. Und
der Herr baut allein, durchaus allein; kein Fremdling darf mit Hand
anlegen. Wenn unser einer mit arbeiten will, wird nichts draus. Will er
uns brauchen zum Bau, so zerbricht er uns erst Arme und Beine, daß wir
nichts mehr können, und verrenkt uns das Gelenk der Hüfte, wie weiland
dem Jakob. So nur kann er uns brauchen. Er allein will bauen; der Tempel
soll sich bauen lassen. Er eifert um die Ehre seines Namens.
Wir fragen nach dem Fundament der wahren Kirche, und siehe, da kommt uns
Paulus mit der Antwort schon entgegen: „Einen andern Grund kann niemand
legen außer dem, der gelegt ist, Christus.“ Der Gottmensch ist das
Fundament. Aber die Stadt ist gebaut in der Form, die Jakob mit den
Händen machte, da er Ephraim und Manasse segnete. Es ist eine
Kreuzkirche; der gekreuzigte Christus ist die Grundlage. Wo man einen
andern Christus hat als den, von dem Johannes ruft: „Siehe, das ist
Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt;” wo der Blutbürge fehlt und sein
genugtuend Opfer und das Blut, das da rein wäscht von allen Sünden, da
mag eine Kirche sein, aber kein „Haus des Herrn“. Die wahre Kirche steht
auf Christus, aber nicht auf dem, welchem auch ein Pilatus Gerechtigkeit
widerfahren ließ: „Ich finde keine Schuld an ihm;” nicht auf dem, mit
welchem sich auch eine ungläubige Philosophie und Ästhetik zu vertragen
weiß, sondern auf dem Christus ruht sie, der den Juden ein Ärgernis und
den Griechen eine Torheit ist und bleiben wird.
Wir betrachten den Bau selber; er besteht aus Steinen, ja aus lebendigen
Steinen. Freilich, Steine sind wir alle von Natur, harte, kalte Steine,
dem wahrhaftigen Leben abgestorben und von dem Gewicht unsrer Schwere am
Boden gehalten. Wie mancher sitzt schon jahrelang in diesen Bänken; es
ist ihm gepfiffen worden, und er wollte nicht tanzen; ist ihm geklagt,
und er wollte nicht weinen; es hat auf ihn geregnet und geschienen,
geschneit und gehagelt, geblitzt und gedonnert, und er ist, was er war,
hart, unverändert. Ist das nicht Felsenart und Steineswesen? Gottlob,
daß einer da ist, der es vermag, dem Vater Abraham aus Steinen Kinder zu
erwecken! Gerade dieses spröde, widerhaarige Material hat er sich zum
Bau seines geistlichen Tempels ausersehen, daß die Größe seiner Kunst
offenbar werde. Nicht die Engel und himmlischen Scharen, nicht die
Teufel und gefallenen Morgensterne, die in Tod und Elend verkommenen
Adamskinder, die bilden den Steinbruch, aus welchem er die Mauern Zions
aufführt. Wie alles, so hat er auch das Geschäft des Ausbrechens selbst
übernommen. Seine Gesellen, die Prediger und Evangelisten, bringen kein
Steinlein los, er spreche denn das Wort durch ihren Mund und führe den
Hammer in ihrer Hand: „Mein Wort,“ spricht er, „ist wie ein Feuer und
wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.” Die Arbeit des großen
Baumeisters in diesem Steinbruch ist nicht einförmig, sondern sehr
mannigfaltig. Etliche Steine werden abgelöst, allmählich, in sanfterer
Weise, durch lange Vorbereitung. So Maria, Lazarus, Martha. Andre werden
losgehämmert; da geht es schneller, aber auch empfindlicher und unter
heftigen Wehen. So Petrus, Nikodemus und andre. Noch andre werden gar
gesprengt wie mit Pulver und Feuer, wie Paulus auf dem Weg nach Damaskus
und der Kerkermeister; da tut es einen Knall, und der Stein ist
plötzlich los. Wann aber kann man sagen, der Stein sei los? In dem
Augenblick, meine Brüder, da der Mensch ein armer Sünder wird und es mit
ihm zum moralischen Untergang kommt in der Buße. Dann ist er los und
steckt nicht mehr im Bruch; denn Gott hatt ihn losgebrochen, und er ist
ein ganz andrer jetzt als die Steine, die noch sitzen, und ist ein
lebendiger Stein geworden, zur Besinnung erwacht und schreiend zu Gott.
Diesen Stein behält nun der Baumeister in seiner Werkstatt und Arbeit,
haut ihn zurecht mit dem Hammer seines Wortes, poliert ihn auf dem
Schleifstein der Trübsal und mauert ihn also in die Wände seines Tempels
ein, auf den Grund Christus mit dem festen Kalk und Kitt des wahren
Glaubens, den er wirkt. „Es werden in seinem Land heilige Steine
aufgerichtet werden,“ sagt Sacharja, und der Herr spricht bei Hesekiel:
„Ich habe dich, Tyrus, auf den heiligen Berg Gottes gesetzt, daß da
prangst unter den feurigen Steinen.”
Fassen wir nun den Bau etwas genauer ins Auge, so bemerken wir unter den
lebendigen Steinen eine erstaunenswürdige Einheit und Gleichheit. Woher
sie stammen mögen, aus Europa oder Asien, aus den Weißen oder Schwarzen,
aus den Wilden oder Kultivierten, sobald sie dem Tempel beigefügt sind,
sehen sie sich alle gleich. Alle mit Blut besprengt, alle schwarz in den
Augen der Welt und schwärzer in ihren eigenen; in Gottes Augen alle rein
wie die Lilien und weißer denn der Schnee. Sie sind allzumal zerbrochene
Seelen, gebeugte Leute, Fremdlinge in Mesech, Pilger Gottes, ohne
bleibende Statt, die zukünftige suchend. Sie alle haben Angst in dieser
Welt, und alle sehnen sich bei ihnen selbst und warten auf die
Kindschaft, das ist auf ihres Leibes Erlösung, und sind wohl selig, doch
in der Hoffnung. Alle sind ein Leib, alle ein Geist, alle berufen auf
einerlei Hoffnung des Berufs. Sie alle haben einen Herrn, den, der vom
Holz herrscht, einen Vater, den im Blut des Lammes Versöhnten, einen
Glauben, denn sie alle suchen ihr Leben außer sich in Christus, eine
Taufe, die Taufe in den Tod des andern Adam. Das ist die Einheit der
wahren Kirche. Vollkommene Einheit des Wesens, aber die größte
Mannigfaltigkeit der Formen und der Gaben. „Man wird zu Zion sagen, daß
allerlei Leute daselbst geboren werden,“ singt David. Alle geboren aus
Gott, das ist die Einheit, sonst aber allerlei Leute. „Siehe,” spricht
der Herr bei Jesaja zu seiner Kirche, „ich will deine Steine wie einen
Schmuck legen und will deinen Grund mit Saphiren decken. Aus Kristallen
will ich deine Fenster machen, deine Tore von Rubinen und deine Grenzen
von erwählten Steinen." Ja, Edelsteine sind sie alle, aber der, könnte
man sagen, ist ein grüner Smaragd: die Hoffnung ist sein
hervorstechender Charakter; bei dem andern ist’s die Liebe, und er ist
ein roter Rubin; bei einem dritten ist es kindliche Einfältigkeit und
Demut: er ist ein blauer Saphir; ein vierter ist ein Heller Kristall, in
Weisheit und Erkenntnis leuchtend usw. Der ist beschaulich und
eingekehrt, jener apostolisch und wirksam nach außen; der ist ein
Säugling in Christus, jener ein Jüngling in ihm und der dritte ein Vater
in dem Herrn. Der ist so zu Christus gekommen, jener wieder anders.
So wirkt der eine Geist, nachdem es ihm gefallet.\
Den unterschiednen Glanz;\
Wird dann ein jeder Stein an seinen Ort gestellet.\
So ist der Tempel ganz.
O Pracht der Himmelsstadt, da solche Edelsteine\
Von tausend Arten seind!\
Das ist die wahre Kirch’, der Heiligen Gemeine,\
Die hier so arm erscheint.
Zions Klage.
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Wir kennen Zion, die Wohnung des Herrn. „Und der Herr,“ sagt David, „hat
die Tore Zions lieb.” Aber wie treu und innig er sie liebt, das scheint
Zion nicht zu wissen. Denn Zion klagt: „Der Herr hat mein vergessen; der
Herr hat mich verlassen." O Zion, klage über dich, daß du glaubst, du
würdest die Herrlichkeit Gottes sehen!
Freilich, es können Umstände eintreten, wo nichts gerechter scheint als
diese Klage. Da zur Zeit Noahs alle Welt unter die Waffen trat wider
Gott und seinen Gesalbten und das Volk des Herrn bis auf seine Familie
zusammengeschmolzen war, da in den Tagen der Könige der Same Abrahams
von Jehova abtrat und die Knie der Auserwählten an den Altären Molochs
und Baals sich niederbeugten, da der König Babels dahertrat im eisernen
Kriegsschuh über Salems Trümmer und der große Feind Antiochus den Greuel
der Verwüstung setzte auf den Altar und die Bücher Gottes zerrissen und
verbrannt wurden, da in spätern Tagen die papistische Finsternis sich
über die Kirche lagerte und dann, noch finsterer denn diese, eine
gottlose Aufklärerei ihr „Kreuzige“ zu schreien begann wider den Herrn:
ach, wer mochte es da der Tochter Zion verargen, daß sie ihre Harfe an
die Weiden hing, daß sie sich bedeckte mit Trauer wie eine Witwe und in
das Klagelied ausbrach: „Der Herr hat mich verlassen; der Herr hat mein
vergessen!”
Und wie ist dir zumute zu dieser unsrer Zeit, du Jungfrau Israel? Ja,
die Zeit ist wieder angenehm. Da stehst du auf deinem Turm, du
Wächterin, und schaust um dich her, wie es stehe um deinen Bau, und
siehe, es ist köstlich. Von hier und von da und vielen Orten und Enden
hörst du wieder Hosianna schreien; Hosianna dem, der da kommt in dem
Namen des Herrn! Es ist wieder ein Zeugen und Rühmen erwacht in dem
Land, da es still und traurig war, ein Zeugen von dem, der deine Liebe
ist. Das rot-farbene Kreuzpanier wird wieder aufgeworfen; es regnet
wieder Funken aus der Höhe, das Volk beginnt zu weissagen, die Ältesten
haben Träume, und die Jünglinge sehen Gesichte. Da kannst du ja nicht
anders als die Harfe wieder von den Ästen nehmen und dem Herrn ein Lob-
und dem Fürsten dieser Welt ein Trutzlied singen. Aber so man dich
fragen wollte: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“ dann freilich würdest
auch du jetzt nicht anders als mit Weinen antworten können: „Wenn der
Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fragt, so
werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen.” Du gedenkst daran, wie
du im Grund doch noch immer seist das Würmlein Jakob und wie eine
einsame Hütte im Weinberg; gedenkst, wie an tausend Orten die Straßen
gen Zion noch wüst liegen und die Priester seufzen und die Jungfrauen
jämmerlich sehen. Du wirfst deine Augen auf die zahllose Schar von
Mietlingen auf und unter der Kanzel, die allerwege noch das Volk in die
Irre führen und an Golgatha vorüber hinein in Fluch und Verderben;
wirfst sie auf die Millionen verirrter Schafe, die vom großen Hirten
nicht hören mögen und sterben wollen, den ewigen Tod sterben, und man
begreift es nicht, warum. Im Blick auf diese Finsternis um dich her, da
möchte das Herz dir wieder brechen, und schon schwebt sie dir wieder auf
der Zunge, die alte, bittere Klage: „Der Herr hat mich verlassen; der
Herr hat mein vergessen."
Doch wenn auch Zion als Gesamtheit, wenn auch die wahre Gemeinde als
Gemeinde es nicht wagte, in unsrer Zeit es nicht wagte, in unsrer Zeit
noch mit jener Klage vor Gott zu treten, so weiß ich doch, in Zion, in
den Herzen der einzelnen Zioniten, ist sie nicht verstummt. Ich horche
mich um unter euch, ihr Kinder Gottes, und o, es ist ja des Seufzens
genug an allen Enden. Bald heißt es hier, bald dort: „Der Herr hat mich
verlassen; der Herr hat mein vergessen.“ Da sitzt hier ein armer Büßer
im Winkel und weint, schlägt an seine Brust und schreit: „Gott, sei mir
armen Sünder gnädig,” und weiß die Arme und das Herz des Heilandes noch
nicht zu finden und denkt nicht anders als: „Mich hat der Herr
verlassen; der Herr hat mein vergessen.“ Dort liegt ein Kämpfer im
harten Streit wider die Sünde und ihren Vater, und wie er sich
herumschlage, er kann die Natter nicht bezwingen, es wachsen ihr neue
Köpfe; da sinkt er hin, der arme Streiter, und schreit: „Mein Gott, mein
Gott, warum verlässest du mich also!” Hier sitzt eine arme Seele in der
Finsternis schwerer Anfechtungen, fürchterlicher Zweifel, banger
Schreckensgedanken, daß ihr alle Gebeine erbeben. Sie verzweifelt an
ihrem Gnadenstand, verzweifelt an Christus und seiner Liebe, und aus
ihrem Herzen bricht mit Ungestüm die Klage: „Der Herr hat mich
verlassen; der Herr hat mein vergessen.“ Dort schmachtet ein andrer im
Feuer äußerer Trübsal schon lange, lange Zeit, und der Herr verzieht.
Und die Feindin freut sich und spricht: „Wo ist nun dein Gott?” Und ach,
sein Gott will sich nicht zeigen. Die Füße des Herrn bleiben in tiefen
Wassern, sein Haupt in Wolken verhüllt, daß auch die Freunde schon
anheben zu sagen: „Wärest du fromm, so würde Gott nicht also über dich
kommen.“ Und der arme Dulder hebt an zu zagen und jammert: „Der Herr hat
mich verlassen.” Und wie die Ursachen sonst noch heißen mögen; genug,
die Klage: „Der Herr hat mein vergessen!" ist unter uns, nicht wahr,
geliebte Reichsgenossen, in diesem oder jenem Herzen ist sie, in der
oder der Kammer wird sie laut zuzeiten und wird laut wohl auf manchem
Lager unter uns, mit vielem Geschrei und Tränen des Nachts, wenn die
Welt gar still ist und die Leute schlafen.
Nun tretet denn zusammen, göttlich betrübte Seelen! Denn den Traurigen
nach der Welt gilt unsre Predigt nicht. Tretet zusammen! Denkt nicht,
ich werde nun anheben, euch zu strafen, um eures Unglaubens willen!
Nein, das kommt mir nicht zu. Straft euch doch der Herr nicht. „So
willst du uns denn trösten?" Nein, liebe Seelen, ich nicht; was hülfe
das? Aber einen andern bringe ich mit, der will trösten, und der kann
es. Siehe, der allmächtige Gott ist es selber. Er hat euren Kummer
gesehen, und die Eingeweide seiner Barmherzigkeit brausen gegen euch,
seine weinenden Kinder. Da steht er. Ach, seht die Holdseligkeit seines
Angesichts, seht diesen Glanz der zärtlichsten Liebe, die ihn
umleuchtet, seht diese offenen, ausgestreckten Vaterarme und hört, hört
dieses Schlagen des erbarmungsvollen Herzens! Er hat ein Wort mit euch
zu reden.
Ach fürchtet nichts; es ist ein Wort, das mit einem Mal die dunkle Nacht
eurer Seele in Hellen Morgen wandeln wird.
Gottes Zuspruch.
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„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht
erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so
will ich doch dein nicht vergessen. Siehe, in die Hände hab’ ich dich
gezeichnet; deine Mauern, o Zion, sind immerdar vor mir.“ O welch ein
Zuruf, welch eine gnädige Tröstung! Leg dir diese Worte auseinander,
liebe Seele, versenk dich ganz hinein, laß keine Silbe unerwogen und
sag, ob das nicht trösten heißt! Nicht wahr, es ist schon eine große,
große Seligkeit, vor dem Allmächtigen mit schweigender Ehrfurcht
niedersinken und zu ihm mit Grund und Wahrheit sagen zu dürfen: „Mein
Gott, mein Gott!” Noch seliger ist es, frei offen vor ihn hintreten und
ihn „Abba, Vater, lieber Vater" nennen zu dürfen. Aber merk wohl, es
ist, als ob der liebe Gott auch das bedacht hätte, daß uns einem lieben
Vater gegenüber doch eine gewisse Ehrfurcht noch in etwa hindert, ganz
zutraulich, ganz kindlich offen und hingebend zu sein, und daß wir einer
Mutter gemeiniglich, wenn auch nicht mehr Liebe, so doch mehr
Zärtlichkeit zutrauen und ungehemmter und freier mit ihr verkehren
können. Und nun sieh, auf dieses menschliche Gefühl mit zarter Sorge
Rücksicht nehmend, tritt er vor dich hin, liebe Seele, und stellt sich
dir dar als deinen Gott, als deinen Vater? Ach nein, das nicht allein.
Er will auch — o kannst du’s ohne Weinen hören? — er will auch deine
Mutter sein, ja deine Mutter.
Mit einer Mutter vergleicht sich der Herr an unserm Ort, und daß er das
tut, wie ist das groß, welch eine Liebe liegt darin, welch eine
Zärtlichkeit und welch ein Trost für dich, betrübte Seele! Du sollst nun
ja nicht mehr denken, du gehörst einem andern an, oder seist von Gott
nur so an Kindesstatt angenommen. Freilich, das wäre schon etwas Großes.
Aber nun sagt Gott dir gar, er sei deine Mutter, die dich geboren habe.
Geboren? Ja freilich, denn woher wäre denn die neue Kreatur in dir, und
wäre sie auch ein kleines Kindlein erst? Ist sie nicht aus Gott geboren,
wie Johannes sagt? Siehe, so nahe bist du ihm verwandt, du Neugeborener!
Gott deine Mutter! O Gedanke voll Süßigkeit! Siehe, Mutterarme sind es,
in denen du ruhst, ein Mutterherz, an dem du gebettet liegst, und
Mutteraugen, die dich bewachen. Eine Mutter führt dich; o welche
Liebesführung wird das sein! Eine Mutter trägt dich; wie sorgsam mag die
tragen! Dich pflegt, nährt, tränkt eine Mutter; wirst du nun noch
fragen: Was werde ich essen, was trinken? Eine Mutter wäscht und reinigt
dich; ei wie wird die ihr Kindlein so sauber machen und in so schöne
Stücke kleiden! Eine Mutter züchtigt dich, also eine Mutter, die, wenn
sie züchtigen muß, selber mehr Schmerz empfindet als das gezüchtigte
Kind. Eine Mutter tröstet dich, wie der Herr auch sagt: „Ich will euch
trösten, wie einen seine Mutter tröstet,“ und eine Mutter bringt dich
auch einmal zur Ruhe; was willst du mehr, du glücklich Kind? Ei, leg
dein Haupt an deiner Mutter Brust, und dann sei still und habe Frieden.
„Gott meine Mutter? Ja, ja, mein Bruder, nimm es nur an aus seinem
eigenen Mund; er ist’s wahrhaftig. „Ach, dann habe ich genug, dann sag
nur Amen; dann schließ nur die Predigt; es ist genug.” Nein, liebe
Seele, noch nicht Amen; du sollst noch ein Mehreres hören. Auch das will
der Herr dir noch sagen, wie er dich liebe, und wie seine Mutterliebe
beschaffen sei.
„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht
erbarme über den Sohn ihres Leibes?“ so fragt der Herr. Bemerkt die
Steigerung in diesen Worten; schon mehrere alte Ausleger machen darauf
aufmerksam und sagen: „Darin liegt die Kraft.” Kann auch ein Weib
vergessen, will der Herr zuerst sagen. Ein Weib, vorzugsweise von Gott
in reicher Fülle des Gefühls begabt, kann die auch wohl vergessen, d.h.
aufhören, Liebe zu empfinden. Doch ja, vielleicht vergißt sie Vater und
Mutter und hängt ihrem Mann an; aber wird sie auch ihres Kindes
vergessen können? Nun, es sei ein ungeratenes Kind; sie zürnt ihm, aber
wird sie es darum vergessen, ganz aus ihrer Liebe ausschließen, aus
ihrem Herzen verbannen können? Nimmermehr; nicht wahr, ihr Mütter? Doch
wir nehmen an, sie vergäße ihren erwachsenen Sohn, ihre entfernte
Tochter, sollte sie denn auch wohl ihres Kindleins, des zarten hilflosen
Säuglings, vergessen und aus ihrer Liebe und Sorge ihn entfernen können?
Nein, nein, wie sollte es möglich sein? Ein Tiger würde das können, aber
keine zärtliche Mutter. Doch wir denken uns Unmögliches möglich; wir
nehmen an: ja, ein Weib könne auch ihres Kindleins vergessen, wird es
denn aber wohl auch mit einer Mutter dahin kommen können, daß sie sich
nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes, daß sie ohne Mitleid ihren
Säugling in Elend, Not, Jammer und Schmerz sich könnte krümmen und
verschmachten sehen? Nein, nein, eines Weibes Auge, das nie geweint,
würde da zur Tränenquelle werden; und wo wäre die Mutter, die da nicht
von Herzen ausrufen würde: „Ach, du mein armes, armes Kind, daß ich für
dich leiden könnte!“ Wenn also der Herr fragt: „Kann auch ein Weib ihres
Kindleins vergessen?” nicht wahr, so seid ihr Mütter bald mit der
Antwort zur Hand und ruft mit einer Stimme: „Nein, nein, das ist nicht
möglich!“ Nun so wißt: „So spricht der Herr, will auch ich eurer, meiner
Kinder, nicht vergessen.” Also er liebt sie mit der Zärtlichkeit der
zärtlichsten Mutter. Doch nein, hier ist noch mehr denn
Mutterzärtlichkeit, hier ist Liebe über Mutterliebe; denn der Herr sagt
ja nicht: „So will auch ich euer nicht vergessen;“ er spricht: „Und ob
sie desselben vergäße, und wenn das Unmögliche möglich würde, daß eine
gute Mutter sich des Sohnes ihres Leibes nicht erbarmte, so will ich,
der Unveränderliche, der ich von nichts abhänge, so will ich doch dein
nicht vergessen!” Das ist stark; hier öffnet sich ein Abgrund der Liebe,
zu dessen Boden ein menschliches Auge nicht hinabdringt. Für solche
Mutterzärtlichkeit haben wir keinen Begriff, keinen Maßstab, keinen
Ausdruck. Tochter Zion, wagst du’s noch, zu klagen: „Der Herr hat mich
verlassen; der Herr hat mein vergessen?" Ach, solche Klage ist unrecht,
ist Sünde, ist Lästerung; hinweg damit und nieder in den Staub und bete
an!
Und wie lautet nun der Schluß unsers göttlichen Zurufs? „Siehe,“ spricht
der Herr, „in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind
immerdar vor mir.” O wie das tröstlich lautet, sowohl für Zion im
allgemeinen als für die einzelne, bekehrte Seele! Wie ein Baumeister,
der eine Stadt bauen will, zuvor den Grundriß entwirft und die Stadt
nach ihrem ganzen Umfang mit Häusern, Straßen, Plätzen und Palästen im
Plan verzeichnet, so hat auch der Herr seine geistliche Stadt
verzeichnet, und das Pergament sind seine allmächtigen Hände. In seinem
Plan und Abriß steht sie da in ihrer Pracht; wer will’s ihm wehren,
seinen Plan ins Werk zu stellen? Er wird bauen bis zur Vollendung; und
ihr aus Samaria und der Kananiter Grenzen mit dem Feldgeschrei: „Brecht
ab, reißt ein!", ihr werdet euer Fähnlein nicht auf den Mastbaum
stecken. Zions Mauern sind immerdar vor ihm; er gedenkt seiner Gemeinde
Tag und Nacht; er hat nichts andres, was ihm Lust macht hier auf Erden;
die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.
Und wie sein Zion im ganzen, so hat er jedwedes seiner Schäflein in die
Hände gezeichnet, und o daß du da dein Bild nur einmal sehen könntest,
liebe Seele, du würdest staunen, so herrlich stehst du in diesen Händen
abgemalt. Nicht in der Gestalt, die du jetzt noch trägst, nicht in
deinem Todesleib und den Gebrechen und Sünden, die dir noch ankleben,
siehe, wie du einst werden sollst, so hat der Herr dich in die Hände
gezeichnet; er sieht dich schon im Glanz vollendeter Verklärung, während
du hier unten in lauter Streit und Elend noch umhergehst, und wie du
dich in seinen Händen abgezeichnet siehst, gerade so sollst du einst
werden. Seine Hände wollen dafür sorgen. Und meinst du, es könne ein
Augenblick kommen oder ein Ort sein der Welt, da des Herrn Auge nicht
über dir wäre? Wisse, du bist vor ihm immerdar. Sitz in einen Winkel und
weine oder schwemme dein Bett des Nachts in Tränen, liege mit Elia unter
dem einsamen Wacholderstrauch, oder verkriech dich in die hohen Wälder,
wo sie am dichtesten sind, das Mutterherz Gottes ist bei dir, sein
Mutterauge über dir, und seine Hand hat die deine umfaßt, solltest du es
auch nicht fühlen. Sei es, wo und unter welchen Umständen es wollte, so
oft du klagst: „Der Herr hat mich verlassen; der Herr hat mein
vergessen," so redest du irre und vertust dich sehr; Gott weiß es. Ach,
wenn dir einmal nur wie einst dem Knaben des Propheten deine Augen
aufgetan würden, Geister zu sehen, Bruder, du würdest staunen.
Hinweg denn mit der unnötigen Sorge! Wer es darf, der getröste sich mit
der Mutterliebe seines Gottes! Er vergißt nicht seines Kindes, auch
nicht seiner Kindlein, auch seiner Säuglinge nicht. Ach nein, die jetzt
geborenen Kindlein mögen ihm ja wohl am nächsten am Herzen liegen, und
die schwächsten mag er am sorglichsten tragen. Aber sind auch wir seine
Kinder? Ja, ja, ihr seid’s, so ihr das anders von euch sagen könnt, daß
ihr mit inniglichen Tränen seine Gnade sucht, daß ihr von Herzen nach
den Früchten seines Kreuzes schmachtet und mit zerbrochenem Geist allen
Ernstes die Reinigung in Jesu Blut begehrt; dann ist der neue Mensch ans
Licht geboren; dann seid ihr Gottes Kinder. Und so ihr eurer Kindschaft
auch nicht recht fröhlich werden könntet und die Mutterliebe eures
Gottes noch nicht schmecktet, erglaubt euch diese Mutterliebe; die Zeit
des Schmeckens wird dann auch schon kommen. Ach, sie möchte uns gern
sanftere und fröhlichere Wege gehen lassen, als sie gemeiniglich tut,
wenn es unser Heil nicht anders erheischte. Doch denkt an die Geschichte
von den zwei Weibern und an das Kind, um das sie stritten vor dem
Richtstuhl Salomos! Siehe, sollte die Gefahr und Not so groß werden, daß
du sie nicht mehr tragen könntest, damit wird sich’s zeigen, wer deine
Mutter ist.
Sehe sich aber ein jeglicher vor, daß er sich nicht der Mutterliebe
Gottes getröste ohne Grund und nicht auf Liebe hoffe, wo nichts zu
hoffen ist. Nur Zion darf den Herrn seine Mutter nennen. Was in den
Schoß dieser Mutter hineinbringt, es ist nicht Tugend oder Bildung, es
ist nicht Fasten oder Singen, es sind nicht Taten noch Verdienste, es
ist allein ein arm zerbrochen Herz, ein zerschlagener Geist und ein zum
Kreuz seufzendes Gemüt. Das „Herr, gedenke mein!“ des Schächers, das
„Ach” einer gebeugten Sünderseele zum Opferlamm, das allein zerreißt den
Himmel, das allein dringt an des Vaters Herz; es ist der Schlüssel zum
Heiligtum; und dieses „Ach", das geb’ euch Gott in Mund und Herzen!
Amen.
Judas Lager.
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4\. Mose 2, 3: „Gegen Morgen soll sich lagern Juda mit seinem Panier und
Heer, ihr Hauptmann Nahesson, der Sohn Amminadabs."
Unser Kapitel trägt die Überschrift: „Lagerordnung." Es berichtet uns,
wie die Kinder Israel auf ihrem Zug nach Kanaan sich lagern mußten. Dies
alles miteinander bedeutet etwas. War doch das ganze Israel nur der
Schatten eines andern, eines neuen und geistlichen Israels, das aus ihm
und nach ihm kommen sollte, und alles, was Gott unter diesem Volk
veranstaltete und mit ihm vornahm, hatte ein Absehen auf zukünftige,
höhere Dinge; alles war Bilderwesen, alles prophetisch und vorbedeutend,
Schatten, dessen Wesen und Körper im Reich Christi zu suchen ist. So
verhält sich’s auch mit der Lagerordnung, nicht bloß des ganzen Volkes
im allgemeinen, sondern auch des einzelnen Stammes, von welchem in
unserm Text die Rede ist. Sie schattet ab und bildet vor, wie das Volk
Gottes geistlich bis zu diesem Tag gelagert ist. Ein angenehmes,
fröhliches Schauspiel! Wir wollen’s näher ins Auge fassen.
Wir betrachten:\
1. Den Stamm Juda,\
2. sein Lager,\
3. des Lagers Richtung,\
4. sein Panier,\
5. sein Heer und\
6. seinen Hauptmann.
Den Stamm Juda,
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Es ist bekannt, daß der Stamm Juda ein Vorbild des neutestamentlichen
Volkes war. Sehr häufig wird die wahre Kirche geradezu unter dem Namen
Juda angeredet. „Es freue sich der Berg Zion,“ singt David im Blick auf
die freudenreiche Zukunft Christi, „und die Töchter Judas seien
fröhlich.” „Juda,“ verkündet Joel, „soll ewiglich bewahrt werden.”
Sacharja weissagt: „Der Herr wird Juda erben für sein Teil in dem
heiligen Land.“ Und was der segnende Jakob meint mit seinem: „Juda, du
bist’s, dich werden deine Brüder loben!” das wißt ihr schon. Und in der
Tat; Juda hat alle Eigenschaften, um ein Bild der lebendigen Gemeinde
abzugeben. War er der vornehmste Stamm, der dem ganzen Israel seine
Fürsten und Könige gab: siehe, hier ist ein auserwählt Geschlecht, ein
Reich, da alles König, alles Priester ist, und dessen Zepter den
Erdkreis richten wird. War Juda das Volk, aus dessen Schoß der andere
Adam geboren ward; siehe, hier ist das Weib, mit der Sonne bekleidet,
das in Kindesnöten ist und gebiert in sich durch Überschattung des
Heiligen Geistes und außer sich durch Zeugnis und Predigt das Kindlein,
das alle Heiden mit eiserner Rute weiden soll, welches ist Christus. War
Juda der Stamm, der an den Hügeln Zions wohnte und in Jerusalem und das
Heiligtum Gottes auf Morija in seinem Schoß trug; siehe, hier ist das
königliche Priestertum, das zur Stadt Gottes ein- und auszieht, es ist
selbst Jehovas Stadt und Heiligtum und trägt in seinem Schoß des Herrn
Herd und Feuer, und die Herrlichkeit des Herrn erfüllt das ganze Haus.
Das ist das wahrhaftige Juda.
Der Name Juda bedeutet Lob. „Gottlob!" rief seine Mutter, da er geboren
ward; daher der Name. So ist auch das geistliche Juda dem, der es
geboren und gemacht hat, gesetzt und gefertigt zu Lob auf Erden. Es ist,
auch mit stummem Mund, ein rauschender Preisgesang von der gnädigen
Macht, von der allmächtigen Gnade Jehovas. Denn wer sind diese Könige?
Sind sie nicht Feuerbrände, aus den Flammen gerissen? Wer sind diese
Priester des Heiligtums? Sind es nicht Gottlose, die Gott geheiligt hat?
Wer sind diese fröhlichen Saitenspieler mit den goldenen Harfen in ihren
Händen? Sind es nicht Steine, denen der Gott Jakobs den Mund geöffnet?
Wer sind diese grünen Pflanzen in Gottes Garten? Waren es nicht
verdorrte und erstorbene Reiser, reif für das Feuer, die nur die
Allmacht konnte grünen und blühen machen? Und woher stammen sie, diese
Reichsgenossen der Engel, diese Erben der zukünftigen Herrlichkeit? Sind
sie nicht gehauen aus einem starren und toten Fels? Sind sie nicht
gegraben aus der Tiefe der Hölle? Sind sie nicht hervorgegangen aus
eklem Schlamm und grausamer Grube? Kommen sie nicht her vom Leichenfeld
und aus dem Lager der Erschlagenen? Sind sie nicht der Verwesung aus den
Zähnen und dem Teufel aus den Krallen gerissen? Steigen sie nicht herauf
aus den Gefängnissen des geistlichen Todes, aus den Ketten des
göttlichen Zorns und herab von den Höhen der Scheiterhaufen, deren
Flammen sie verzehren sollten? O Wunder über Wunder, die an diesem Volk
zu sehen sind! Es mag wohl Juda heißen; denn alles, was an ihm ist, lobt
den Herrn. Ein lebendig Denkmal steht es da von Christi Macht und
Christi Gnade; ein Denkmal, staunenswürdiger als das ganze Weltgebäude.
Und in ihm ist des Herrn Ruhm, des Herrn Stolz. Dieses Volk seines
Eigentums setzt er als eine goldene Krone auf sein Haupt und nennt es
seinen fürstlichen Hut und sein königliches Diadem. Dieses Geschlecht
erkaufter Sünder zieht er an als einen Schmuck und als ein festlich
Gewand, auf das, wie David singt, der Balsam seines Hauptes in Strömen
herabfließt. Dieses Volk ist das Geschmeide, das er anlegt am Tage
seines Triumphs, und ist die goldene Kette, die um seinen Hals hängt.
Die Namen dieses Volkes funkeln in dem Priesterschild auf seiner Brust;
die Tränen dieses Volkes blitzen als Edelgesteine auf seinem Purpur, und
die Opfer desselben bewahrt er treulich im Allerheiligsten; sie gelten
ihm mehr denn der Engel Opfer. Und wenn er wiederkehren wird am Tag
seiner Herrlichkeit, daß alle Kreaturen seine Glorie sehen, siehe, im
Geleit dieses Volkes wird er kommen; mit diesem Volk wird er sich
umgeben als mit einer Ehrenwache, mit diesem Volk den Thron teilen, und
sein Sohn Juda wird mit ihm den Erdkreis richten. Er ist gemacht zu Lob
seiner herrlichen Gnade, darum Juda. Ja, Juda, du bist’s.
Ihr kennt nun das Völklein, von dem wir reden. Wir haben’s aber nach dem
Text nicht mit dem Juda zu tun, das friedlich zwischen den Hügeln Zions
und am Ufer des Jordans wohnt und daheim unter dem Ölbaum und dem
Weinstock sich vergnügt, sondern mit dem Juda, das draußen auf dem
Marsch begriffen, unter dem Trompetenschall und Waffengerassel in der
Wüste lagert und an Krieg und Kampf gedenkt. Diesem Juda sieht auch das
geistliche in dieser Welt weit ähnlicher als jenem zwischen den
friedlichen Grenzen Kanaans. Auch das geistliche ist ein Kriegsvolk, und
seines Kämpfens ist kein Ende. Seine Feinde kennt ihr. Wahrlich, es ist
hier mehr als Midian und Amalek, Feinde von außen und von innen, und
manche sind Fürsten und Gewaltige. Feinde in der Luft und Feinde auf der
Erde, Feinde im Hause und Feinde im Herzen und in den Gliedern, Feinde
im Geräusch der Welt und Feinde in der einsamen Kammer, und
Nachstellungen, Hinterhalte und verdeckte Minen, wo man geht und wo man
steht. Da muß ja Juda gerüstet stehen, es mag nun wollen oder nicht. Das
alte Juda teilte sich in verschiedene Häuflein, deren jedes seine
besondere Rüstung hatte; so auch das geistliche. Wie diese Davidskinder
verschieden sind nach Form und Zuschnitt ihrer äußerlichen Tracht, nach
Ausdruck, Gepräge und geistlicher Farbe, so streiten sie auch nicht alle
mit denselben Waffen. Da schlägt der eine den Feind mit Tränen nach
Kinderart, die, wenn Gefahr sich zeigt, sogleich nach der Mutter weinen.
Das ist ein blödes Streiterheer, und dennoch, ein Sieg folgt auf den
andern. Da ficht ein andrer in jungfräulicher Art; heilige Scheu und
Scham heißt die Waffe, die ihm in die Hand gegeben wurde. Kaum ist die
Versuchung da, da bebt auch das Herz schon zurück: „Wie sollt’ ich ein
so groß Übel tun?“ und Joseph ist gerettet. Ein dritter führt das
Schwert des Wortes: „Es steht geschrieben,” heißt es da bei jedem Anfall
des Versuchers, und dann: „Hebe dich hinweg von mir, Satan, denn du
meinst nicht, was göttlich, sondern was teuflisch ist." Mit Geschrei und
Seufzen streitet ein vierter und überwindet den Feind, wie Mose, da er
die Hände gen Himmel reckte, die ihm Aaron halten mußte; da ward Amalek
geschlagen; oder wie die Küchlein den Feind zu überwinden pflegen, indem
sie unter die Flügelbedeckung der Henne sich bergen; so sind sie sicher.
Ein fünfter kämpft mit dem Kreuz; ein Blick auf die blutige
Martergestalt an diesem Holz, und der Sturm in den Gliedern legt sich,
und Satan schießt seine Pfeile vergebens. Ein sechster schlägt den Feind
mit dem nackten Glauben. Trotzend auf die tausend Gottesverheißungen,
die in den Fels der Unvergänglichkeit eingehauen sind, ist er bei sich
gewiß, ihm könne der Feind nichts anhaben. Er verlacht ihn, wo er naht,
und wahrlich, solch Lachen kann Satan nicht ertragen; er schleicht von
hinnen. Und wie die Waffen gegen Teufel und Fleisch, so sind auch die
Waffen verschieden gegen menschliche Feinde, Gotteslästerer und
Verächter. Da kämpft der eine mit einem durchdringenden Geschoß der
Liebe und Sanftmut, die Flucher segnend und den Feinden Feuerkohlen auf
das Haupt sammelnd. Da ist es einem andern gegeben, zu streiten mit Tat
und leuchtendem Beispiel und also die Lästermäuler zu stopfen. Ein
dritter überwindet sie durch eine beschämende und verwirrende Einfalt,
welche die größten Geister verlegen macht. Ein vierter führt das Schwert
des Geistes und weiß die Feinde der Sache Gottes mit mächtigen Gründen,
gewaltigen Gedanken und siegreichen Beweistümern in den Staub zu legen.
Ihr seht also, wie allerlei Leute, so auch allerlei Waffen in Juda,
gerade wie in dem Juda nach dem Fleisch. Und doch ist wieder aller
Schwert und aller Harnisch und aller Schild nur einer, der, der an ihrer
Spitze steht, der Fürst über das Heer Gottes, Christus der Herr.
Sein Lager.
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Schaut nun das Volk in seinem Lager, denn „Juda soll sich lagern,“
spricht der Herr. Freilich, ein gelagert Volk ist das geistliche Juda.
Es war’s nicht immer. Von Haus aus stand’s in erträumter Kraft und
Herrlichkeit sich brüstend. Da hat die Hand der Gnade es gefällt und die
stolzen Wipfel zur Erde niedergebogen. Nun liegt’s im Staub, schwach,
arm und bloß und spricht: „Im Herrn hab’ ich Gerechtigkeit und Stärke.”
Gelagert kämpft, siegt, strebt und wandert es, und was es tut, das tut’s
gelagert; gelagert in der Tiefe der Selbstvernichtung, der Geistesarmut,
des Armensündertums. Es liegt im Staub, zu Jesu Füßen. Und fällt’s
jemand ein in Juda, dies Lager zu verlassen, sich aufzurichten, sich zu
erheben, gleich ruft der Herr in dieser oder jener Weise sein: „Juda
soll sich lagern!", und die alte, gute Bettlerstellung ist wieder
eingenommen. Darum herunter mit euch allen in die Tiefe, die ihr einer
eigenen Würdigkeit euch rühmt und selbsterworbener Kronen euch
getröstet! Das ist nicht Brauch in Juda. Schnell lagert euch! Und euer
einziger Ruhm und Trost, das sei die Krone, die euer König für euch trug
auf Gabbatha, das sei sein blutbesprengter Rock und nicht ein eigener.
Herunter, die ihr im Rennen und im Laufen nach selbsteigener
Verdienstlichkeit begriffen seid! Das ist nicht Judas Art. Juda ist
gelagert und zehrt in seliger Muße vom Kapital fremder Tugenden und
zugerechneter Verdienste. Herunter von der Höhe, die ihr strebt, durch
selbsterwählte Besserung eure Fehler wieder gutzumachen! Das ist Irrung
und nicht Judas Weise. Juda legt sein Antlitz auf die Stufen des
Gnadenthrones, und so wird wieder gutgemacht im Blut des Priesters, was
man versehen. So lagert Juda.
Juda soll sich lagern! spricht der Herr. Damit geschieht Gott kein
Gefallen, daß Juda eitlerweise und in ungebotener Arbeit sich zerplage.
Das Volk soll Ruhe haben und genießen, was er mit saurem Schweiß für
Juda ausgemacht, erstritten und erworben hat. Der Tisch ist bereitet,
das Mahl ist aufgetragen; es ist nichts mehr auszumachen, es ist nichts
mehr abzutun; Juda soll Feiertage haben, essen und trinken. Es soll sich
lagern ins tiefe Ruhebett der blutigen Verdienste seines Bürgen. Ach,
seliges Lager! Da liegt man sanft; da schläft man ganz mit Frieden; denn
du, Herr, schaffst, daß man sicher wohne! Hört man von da die Stürme
sausen, man hört’s mit Lust; je stürmischer da draußen, desto trauter
drinnen in der Lagerstätte. Hört man von da die Feinde schreien, es
macht Vergnügen; je lauter ihr Geschrei, desto melodischer die Stimme
jenes Blutes, das bessere Dinge redet denn Abels. Hört man von da die
Hölle toben, es macht Behagen. Je schwerer die Gefahr, desto seliger die
Freistatt, da wir wohnen. Hört man von da im Geist die Posaunen des
Weltgerichts erklingen, man hört’s mit Jauchzen; je ernster und je
schrecklicher die Zukunft, desto süßer das Gefühl der Sicherheit und das
Bewußtsein: „Wir sind geborgen!" Ja, ja, ein kostbar Lager! Da wirf du
dich hinein, tief, tief, wie in ein Meer. Denn wer mit Christus in
Gethsemane im Staub gelegen und mit dem Wurm ein Wurm geworden ist, der
darf auch dieses Lager mit ihm teilen.
„Juda soll sich lagern!“ Wie aber und in welcher Ordnung? „Wie ein
Webeopfer,” spricht der Herr (Kap. 8,11), ins Gevierte, in Gestalt des
Kreuzes. Bedeutsame Lage. Ja freilich, das ganze Juda Gottes, so liegt
es auf dem Kreuz des Hohenpriesters als auf der einzigen Blanke, die aus
dem Schiffbruch rettet, als auf dem eigentlichen Fundament all seines
Lebens, Freuens, Hoffens und Erwartens, und was neben diesem Kreuz
liegt, gehört zu Juda nicht. Kreuz unter Judas Füßen und Knien, Kreuz
auf seinem Nacken und seinen Schultern. Ein Kreuzlager in mancherlei
Weise.
Aber wo sind denn Judas Wohnungen und Häuser? Juda liegt im Lager. Da
gibt’s nicht feste Häuser, da sind nur Hütten und Gezelte, die leicht
und ohne Mühe auf- und abgeschlagen werden. Denn die Kinder Juda müssen
sich marschfertig halten. Sie sind Gäste in der Welt; Gefühl der
Fremdlingschaft erfüllt die Seele und alles, was in ihnen ist, ist auf
der Reise. Sie leben den lieblichsten Verhältnissen der Zeit nur als in
Laubhütten, mit losgebundenem Herzen. Die da Weiber haben, sind als
hätten sie keine; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und
die da kaufen, als besäßen sie nicht; und die da weinen, als weinten sie
nicht; denn sie wissen, auch das Trübsalsleiden sei nur ein Wohnen in
Hütten, ein Übernachten in beweglichen Zelten. Einen Abend lang währt
das Weinen, und am Morgen kehrt die Freude ein. Wir haben hier keine
bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Ach, selige Kunst,
allerwärts und immer nur im Wanderzelten zu übernachten. Das lernt man
in der Gnadenschule. Es ist nicht auszureden, wie tief und fest die
Anker unsers Herzens im Erdreich der Vergänglichkeiten sich verbissen
haben. Ein einziger Steuermann versteht es, sie zu lichten. Ach Juda,
selig bist du in deinem Lager und unter deinen leichten Hütten!
Des Lagers Richtung.
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Des Lagers Richtung, das ist das dritte, was wir zu betrachten haben.
Juda soll sich lagern gegen Morgen. Das klingt ermunternd und freudig.
Ja, so liegt dieses teure Volk, den Abend im Rücken, den Morgen im Auge.
Seht nur genau; von den Kindlein in Juda bis zu den Greisen, alles
schaut nach Aufgang, alles nach Osten! Da, wo die Helle Saronsrose
erblühte, die Wurzel Davids aus dürrem Erdreich aufschoß und der Fürst
der Sterne über die Nacht sich emporschwang, da wandeln sie mit ihren
Blicken, ihren Gedanken. Bald tauchen Bethlehems Hügel vor ihnen auf in
der Ferne, und sie hören mit entzücktem Geist das Jauchzen der Engel,
bald stehen sie am Ufer des Meeres und freuen sich des Mannes, dem auch
Sturm und Wellen gehorsam sind. Jetzt bauen sie mit Petrus sich ein
Hüttlein auf dem Berg der Verklärung und haben Träume und sehen Gesichte
von herrlichen Dingen, die da kommen sollen; dann besuchen sie Jesus in
der einfachen Zimmerstätte, den Bruder in Knechtsgestalt, und freuen
sich, dass er so nahe ihnen verwandt geworden, und sprechen mit Tränen:
„Bruder, mein Bruder!“ Jetzt treten sie ein in Gethsemanes Dunkel und
fangen auf die Schweiß-und Bluttröpflein, die von des Herrn Stirn
triefen, und die bittersten Wunden ihrer Seele beginnen heil zu werden
unter diesem Balsam. Und nun erhebt sich vor ihnen der Kreuzesberg. Die
Seele schwingt die Flügel und hängt sich an des Schächers Stelle: „Herr,
gedenke mein, wenn du in dein Reich kommst!” und reißt an sich des
Schächers Trost: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im
Paradiese sein." Dann geht’s wieder hinunter. Ach siehe, das Grab in
Josephs Garten ist gesprengt; halleluja, es hat überwunden der Löwe aus
dem Stamm Juda. Und nun lichtet sich vor ihren Blicken die Höhe des
Ölbergs. Hinauf schwingt sich die Seele, sie sieht den Himmel offen;
Gott fährt auf mit Jauchzen und der Herr mit Heller Posaune. Und die
Seele atmet Paradiesesluft und breitet ihre Fittiche weit auseinander
und möchte mit dem Bräutigam hinauf, hinauf in den seligen
Hochzeitssaal. Seht, seht, so schaut Juda gen Osten, so ist es gelagert
gegen Morgen.
Ja, gegen Morgen, denn es harrt auf den Aufgang der Sonne. Bald wird sie
kommen, wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, Heil und Genesung unter
ihren Flügeln. Schon läßt das Hahnengeschrei sich vernehmen allerorten
unter Christen, Heiden und Juden; schon dämmert’s über den Nächsten,
schon rötet sich der Himmel, und die Nebel, die den kommenden Tag
verkünden, die Nebel des Aufruhrs und des Geschreis, aus den
Feindeslagern empordunstend, setzen sich mit Macht in Bewegung. Er wird
erscheinen, der Aufgang aus der Höhe; die Braut schreit ihm entgegen:
„Komm, ja, komme bald!" Und er wird kommen, der große Fürst in den
Wolken des Himmels und dem Toben seiner Feinde bald ein Ende machen und
den Berg Zion erhöhen über alle Berge der Erde. Darum sind wir gelagert
nach Osten und haben unsre Fenster gegen Morgen. Und ob die Stunde, in
der wir leben, auch noch Mitternacht heiße, wir atmen Morgenluft,
hoffend und glaubend.
Gegen Morgen ist Juda gelagert. Dahin schweifen seine Blicke, dahin
tränen seine Augen, dahin schmachtet seine Seele. Durchwandert die
Gottesstadt und schaut, alles liegt gegen Morgen! Der ist des Pilgerns
müde in diesem kalten und kahlen Mesechsland; Heimweh brennt in seinem
Herzen, er sieht hinaus nach dem Morgen des ewigen Sabbats, ob er doch
bald tagen möge. Der hat des Kämpfens genug in dieser stürmischen
Fremde; er sehnt sich nach den Friedenshütten und fragt ohn’ Unterlaß:
„Hüter, ist die Nacht bald hin?“ Dieser, von Dunkelheiten und Zweifeln
umlagert, läßt nicht ab, sein Fensterlein zu öffnen, ob nicht bald
erscheinen werde jener Morgen, dessen Licht und Helle von keiner Nacht
mehr soll verschlungen werden. Und dieser, von tausenderlei
Verlegenheiten und Nöten umringt, würde keine fröhliche Stunde mehr
haben, wenn er nicht mit den Hoffnungsaugen durch allen Wirrwarr jenen
Morgen dämmern sähe, von dem der Dichter singt: „Träume sind des Pilgers
Sorgen, großer Tag, an deinem Morgen.” Und dieser, an geliebten Gräbern
weinend, möchte weinen und jauchzen zugleich, denn sein Auge ruht auf
einem Morgen, der alle Heiligen in seinem Licht zu einem ewigen
Zusammensein wieder vereinigen wird. Ja durchwandere die Tränenkammer
der Kinder Gottes und tritt an ihr Schmerzenslager, sieh diesen
Hiobsbruder und jene Lazarusschwester! Ja, da magst du wohl fragen, wie
sie’s nur aushalten, und dich höchstlich verwundern, wie ihre Augen noch
so heiter sehen mögen. Aber wisse, in ihre Finsternis leuchtet von fern
ein Morgen herüber, wie die Erde noch keinen gesehen, ein ewiger Sonn-
und Festtagsmorgen mit tausend Kronen und tausend Herrlichkeiten, und
Jesus die Sonne, die ihn macht. Das ist ihr Trost und ihre Freude. Sie
sind gelagert gegen Morgen, und es ist ihnen, als hörten sie die Hähne
schon krähen, als bliesen die Frühwinde schon frisch an ihre Fenster,
als sähen sie die Dämmerung schon in die Kammer fallen. Halleluja, die
Nacht ist bald vergangen, der Tag herbeigekommen!
Und wie nun das ganze lebendige Juda gegen Morgen gelagert ist, so auch
das tote, so auch die Heiligen Israels in ihren Gräbern. Da liegen sie,
die ehrwürdigen Gebeine, diese ehemaligen Tempel Gottes und Wohnstätten
des Heiligen Geistes. Da liegen sie in ihren kühlen Grüften still und
stumm und haben die Hände gefallen. Aber auch sie stehen in der
Wartezeit, auch sie schauen hinaus nach Morgen. Und er wird über sie
hereinbrechen, der große Morgen der Auferstehung. Der Wind des Herrn
wird über sie blasen und sein Posaunenklang sie wecken aus dem langen
Schlaf. Da werden sie hervorgehen in unaussprechlicher Klarheit, und
ihre Geister werden wieder zu ihnen kommen. „Ja, deine Toten, Juda,
werden leben,“ spricht der Herr, „und mit dem Leichnam auferstehen.”
Wacht auf und rühmt, ihr Bewohner des Staubes; denn sein Tau ist ein Tau
des grünen Feldes, und die Erde wirft die Toten aus. Ach, gesegnet seist
du, du ganzes Juda, das du gelagert bist gen Morgen! Harre nur ein
wenig, dein Morgen wird schon kommen! Singe du nur die Heimwehklage:
„Heimweh fühl’ ich, Sohn vom Hause!\
Draußen ist es kalt und kahl:\
Birg mich vor des Sturms Getause\
Bald im warmen Ruhesaal!"
Ehe du dich versiehst, wird deine Klage in einen Reigen verwandelt sein.
Seufze nur aus deiner Pilgerhütte:
„Heimweh fühl’ ich, Fürst des Lichts!\
Dämmerung behagt mir nicht:\
Gönn’ mir deines Angesichtes\
Freuden bald im Saal voll Licht!"
Deine Stätte ist schon bereitet in diesem Saal, du liebwerter Mann;
harre nur noch ein wenig auf den Hoffnungshügeln! Siehe, während du
seufzt:
„Heimweh fühl’ ich, Gott der Liebe;\
Lange währt der Sehnsucht Qual;\
Stille bald die heißen Triebe\
Mir im sel’gen Hochzeitssaal!"
bricht unvermerkt und still die Dämmerung deines Tages an, und ehe du’s
denkst, ist deine Sonne da, um aller deiner Nacht ein ewiges Ziel zu
setzen.
Sein Panier.
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„Juda soll sich lagern gegen Morgen!“ spricht der Herr, und setzt hinzu:
„Mit seinem Panier!” Juda hatte sein besonderes Panier, oben mit einem
Querholz, also kreuzförmig; das Fähnlein, wie alte Überlieferungen
sagen, rot, und darauf das Bildnis eines Löwen. Das Panier Judas war
mithin ein Schatten des unsern, des Kreuzes, des gekreuzigten Christus.
Der ist die Fahne des geistlichen Israels. Fahnen geben das Signal zum
Aufbruch des Volkes. Auf Berge und Hügel pflegte man sie zu pflanzen,
daß sie weithin gesehen wurden, und sofort sammelten sich um sie die
Scharen. So ist’s auch mit unserm Kreuzpanier. Es ist ein Magnet darin,
der allmächtig zieht. Wo es aufgeworfen wird, da gibt’s Bewegung, da
rumort’s, da rauscht’s, da regt sich’s, und die Erwählten Gottes sammeln
sich mit Jauchzen oder Weinen. Da sieht man Menschen, welche die Krippe
nicht zu rühren, der Thron der Majestät nicht zu schrecken, das ewige
Wohl nicht zu locken und das ewige Wehe nicht zu ängstigen vermochte,
und siehe, nun zerbricht ihnen plötzlich das Kreuz ihr Herz, und die
Dornenkrone bohrt in ihre Seele, der Rohrstab schlägt sie zu Boden, und
das Blut des Lämmleins, das vom Holz trieft, zerschmelzt, wie mit
allmächtiger Feuerskraft, in einem Nu den Stein in ihrem Busen. Seht
euch um, wo werden Rahabs und Magdalenen zu Gottesbräuten, wo erblühen
alte Simeone zu Jünglingen und Hannas zu Jungfrauen, wo verwandeln sich
wütende Saulusse in Priester des Höchsten, und wo fallen dem Herrn die
Starken zum Raub? Ist es nicht da, wo das Wort vom Kreuz verkündigt und
das Panier des Kreuzes aufgeworfen wird? Die Kreuzesfahne zieht und
sammelt. Ja siehe, sie ist das Zentrum, um das viel tausend Geister, im
Himmel und auf Erden, Tag und Nacht geschart stehen, denn unter dieser
Fahne ist das Leben.
Wenn einem Heer seine Fahne geraubt wird, so ist das ein großer Verlust,
eine große Schande und fast mehr als eine Niederlage. Unsre Feinde
wissen das, und was wünschen sie lieber, als daß sie diese Fahne aus
unsern Händen winden könnten. Den heiligen Christus, den Gottessohn
Christus, den königlichen Christus, den erhöhten und verherrlichten
Christus, den ließen sie uns tausendmal; könnten sie nur den
gekreuzigten uns nehmen. Alle Pfeile ihres Hohnes und Spottes, auf den
sind sie gerichtet. Den uns zur Narrheit und zum abgeschmackten Märlein
zu machen, dahin geht all ihr Bemühen. Unsre Fahne möchten sie erbeuten,
Brüder, die Fahne unsres Stammes, zu welcher wir geschworen. Schließt
eure Reihen! Eher sterben, als diese Fahne lassen!
Die Fahne zieht dem Heer voran. So uns das Kreuz. Dann heißt unsre
Losung: „durch!“ Geht’s in Sturm und Streit, das Kreuz voran; das macht
uns Mut, das gibt Geduld, das bringt den Sieg. Geht’s in Not und Nacht,
das Kreuz voran; das muntert auf, das kühlt die Stirn, das verheißt
Licht. Geht’s ins Feuer der Anfechtung und Versuchung, das Kreuz voran;
das wird uns schon die Welt verleiden, die Lust versalzen und das
Fleisch bezähmen. Wollen die Sünden uns schrecken, will das Herz uns
richten, das Kreuz zur Hand; wer will verdammen unter dieser Fahne?
Geht’s ins Todestal hinunter, das Kreuz voran; das vertreibt die Nacht,
das schlägt den Tod und reißt den Himmel auf. Geht’s endlich zum
Gericht, voran das Kreuz; denn wird dies Zeichen uns gemeldet haben, so
wird der König sein Zepter freundlich neigen und die Engel uns ein
„Willkomm” entgegenrufen. Solche Macht liegt in der Kreuzesfahne. Sie
dringt durch, wo sonst kein Durchkommen ist; sie zerbricht eherne Riegel
und eiserne Tore und macht uns Bahn durch starre Felsen und über
himmelhohe Berge.
Wenn ein Krieger auf dem Kampfplatz fällt, so ist es eine Ehre, wenn die
Fahne über ihn geworfen und er damit bedeckt wird. Juda, dir geschehe
ein Gleiches! Wenn du fällst und weichst, gleich müsse die blutige Fahne
über dir wehen und dich decken und dir wieder zu Ehren helfen. Und wenn
du endlich stirbst, so stirb im Schatten dieses Banners, stirb unter der
Bedeckung dieses rotfarbenen Feldzeichens! Siehe, so bleibst du als ein
rechter Streiter. Dann geht’s zur Krönung!
Sein Heer.
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Es ist nun die Rede noch von Judas Heer und Hauptmann. Ach, meine
Brüder, wie würden wir erstaunen, welch ein freudiges Erschrecken würde
uns ergreifen, wenn plötzlich einmal das bedeckende Geschwader, von dem
das geistliche Israel umgeben ist, die Schleier zerrisse und aus seiner
Verborgenheit heraus in die Erscheinung träte! Etlichen Menschen ist es
vergönnt gewesen, die unsichtbare Eskorte der Kinder Gottes mit
leiblichen Augen anzuschauen. Jakob sah sie, da er von Laban auszog. Da
begegneten ihm unterwegs die Engel Gottes. Welch ein Anblick mag das
gewesen sein! Und da er sie sah, sprach er: „Es sind Gottes Heere,“ und
hieß die Stätte Mahanaim, das ist „Heerschar”. Elisas Knabe hat sie
gesehen, da er bange ward vor dem König der Syrer und erschrocken
ausrief: „Ach weh, mein Herr, wie wollen wir tun?“ Da erwiderte Elisa:
„Fürchte dich nicht; denn derer ist mehr, die bei uns sind, als derer,
die bei ihnen sind.” Und Elisa rief zum Herrn: „Herr, öffne ihm die
Augen!" Da öffnete der Herr dem Knaben die Augen, daß er sah, und siehe,
da war der Berg voll feuriger Rosse und Wagen um Elisa her. Da waren
abermals die Mahanaim. Judas, des geistlichen, Heer ist der himmlische
Wächterchor zum Dienst um dererwillen ausgesandt, die ererben sollen die
Seligkeit. Es sind die starken Helden mit den goldenen Harfen am Stuhl
der Majestät, die das Angesicht des Alten der Tage im Licht schauen; es
sind die seligen Boten, die vom Himmel ausfliegen und so gern die lieben
Gotteskinder auf Erden besuchen, so gern die Angelegenheiten derselben
vor Gott bringen, so gern über sie Bericht erstatten mögen in den ewigen
Wohnungen, die an den goldenen Stufen Jehovas Befehl erwarten und zur
Hilfe und Beschirmung der Auserwählten gleich Sturmwinden und
Feuerflammen mit Blitzesschnelle und heiligem Ungestüm einherfahren. Die
Engel Gottes sind es, die zur Gemeinde der Heiligen herniederschweben
und zur Gottesstadt auf Erden aus- und eingehen, mit unsern Kindlein zu
spielen und sie zu bewahren, unsre Jünglinge zu warnen und zu leiten,
unsre Männer zu ermuntern und den Schweiß ihnen von der Stirn zu
trocknen und unsern Greisen gute Botschaft zu bringen aus der nahen
Heimat und im voraus schon das erste, leise Gesäusel ihrer himmlischen
Harfen ertönen zu lassen. Ach, ein süßer Schauer muß uns ergreifen bei
dem Gedanken, daß solch ein Heer uns unsichtbar umlagere. Und wer weiß,
wie nahe auch die Wolke jener Zeugen uns möge kommen können, die vor uns
heimgegangen und deren die Welt nicht wert war! Oder sollte die Pforte,
durch welche ein Samuel, ein Mose und Elia aus dem Gebiet der ewigen
Ruhe, wenn auch nur auf Augenblicke in den Kreis der sterblichen Brüder
zurücktraten, sollte sie seitdem verschlossen, ganz verschlossen und
verrammelt sein? Wer möchte das behaupten? Genug, wir leben schon mitten
in der unsichtbaren Welt und haben Himmlische zu Freunden und Gesellen
und Geister zum Umgang und Geleit. Und dieses unsichtbaren Heeres um uns
her, des mögen die Verzagten unter uns, die Kleinmütigen und Klagbaren
sich getrösten, die noch so schnell und gern sagen mögen: „Ach weh, mein
Herr, wie wollen wir nun tun? Ei, Brüder, derer ist mehr, die bei uns
sind, denn derer, die bei ihnen sind. Des freut euch und habt Ruhe!
Seinen Hauptmann.
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Wie heißt nun endlich Judas Hauptmann? Er heißt Nahesson, ein Sohn
Amminadabs. So mag auch unser Hauptmann heißen, unser Herzog. Nahesson
heißt verdolmetscht: „Erfahrung.“ Wer aber ist erfahrener im Streit als
der, dessen blutige Fußtapfen von den Schlachtfeldern Gethsemanes und
Golgathas uns entgegenleuchten und von dem im Garten Josephs, wo er den
Tod geschlagen und in den Sieg verschlungen? Und wer ist geschickter im
Kampf als der, der die Fürstentümer und Gewalten hat ausgezogen und
öffentlich zur Schau getragen und aus ihnen einen Triumph gemacht hat
durch sich selber? Wer ist im Kampf erfahrener als der, der nun schon
zweitausend Jahre lang auf seiner Kriegswarte nicht geschlafen noch
geschlummert? Und wer weiß besser wohl das Schwert zu führen als der,
der ganz allein bis auf diesen Tag durch so viel Millionen Feinde und
Feindesglieder sein schwach und armselig Kirchlein mit Triumph hat
durchgeschlagen? Wer ist erfahrener im Kriegsgetümmel als der, gegen
welchen die blinde, kalte Welt so manch Jahrtausend schon die Waffen
führt, ihm keine Stunde Ruhe lassend. Und wer ist sieggewohnter als er,
der alle Widersacher zum Schemel seiner Füße legt und überall als der
letzte auf dem Staub steht? Er mag wohl Nahesson heißen, Erfahrung; ja
ein erfahrener Held, ein tapferer Hauptmann. Ach wohl dir, Israel, wer
ist dir gleich, o Volk, das du durch den Herrn selig wirst, der deiner
Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges ist? Deinen Feinden wird es
fehlen an dir; du aber wirst auf ihren Höhen einhertreten! Dieser
Nahesson heißt ein Sohn Amminadabs, das ist verdolmetscht: „Er hat ein
Volk geschenkt.” Ja, dessen Sohn ist unser Hauptmann, der ihm vor
Anbeginn der Welt ein Volk verlorener Feinde, toter Hunde angewiesen und
übergeben hat, daß er an ihnen den Reichtum seiner Güte und die Allmacht
seiner Gnade zu seines eigenen Namens Preis und Verherrlichung erweisen
möge. „Alles,“ spricht er, „was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir;
und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.” Und wiederum:
„Das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts
verliere von allem, das er mir gegeben hat, sondern daß ich es
auferwecke am Jüngsten Tage." Ach selig, selig, wer zu diesem Haufen
frei ausgewählter, von Ewigkeit dem Friedensfürsten von Gott geschenkter
Sünder sich zählen darf! Der ruht in Händen aufbewahrt, die, ehe sie das
anvertraute Gut preisgäben, sich selber im Feuerpfuhl Gehennas zu Asche
brennen ließen. Nahesson Ben Amminadab heißt unser Hauptmann. Wohl uns,
in diesem Namen liegt die Bürgschaft für unsre ewige Bewahrung!
So sei denn gelagert mit Frieden, du Juda Gottes! Ja sei gelagert! Laß
sich andre vermessen, stehen und gehen zu wollen. Halt du dich herunter
zu den Ohnmächtigen und Armen; bleib im Staub, leb von Gnade, sei Null
und Nichts, und alles, was du bist, das sei in ihm und habe Ruhe in den
Verdiensten deines Bürgen! Verharre unter dem Panier, zu welchem du
geschworen hast, welches dein Ruhm ist und dein Trost, dein Sieg und
deine Freiheit! Vorwärts, das Angesicht nach Morgen! Die da draußen
sind, die mögen nach Abend schauen und nach Mitternacht, wo auch für sie
der Himmel sich rötet, aber schrecklich und furchtbare Donnerwolken,
Fluch und Verderben bringend, in die Höhe quellen. Schau du nach
Aufgang, atme Morgenluft; so will’s dein Gott! Du sollst nicht ansehen
die Nacht, die dich noch umgibt; vorwärts die Augen auf den Sonnentag,
der dir entgegendämmert! Du sollst nicht stehenbleiben mit deinen
Blicken bei dem trübseligen, dunkeln Gesicht der Sünden, Schwachheiten
und Gebrechen, die dich noch umgeben, ein Leib des Todes. Schau drüber
weg nach Morgen und weide deine Augen an jenem großen Frei- und
Jubeltag, der verheißen ist! Schwing Hoffnungsflügel durch die Luft und
überflieg Nacht, Kreuz und Tod! Im Überfliegen liegt die Klugheit der
Gerechten. Ach, Juda, sei getrost; du darfst es sein. Sing frohe
Morgenlieder, auch mitten in den Nebeltälern, durch die dein Weg dich
führt!
Der Weg ist dir gebahnt, gesprengt das Schloß;\
Durchs Abendland, durch dunkler Nächte Schoß\
Führt dich die Bahn Nach Gottes Kanaan.\
Dort bist im lichten Morgen Du ewiglich geborgen.\
Getrost voran; Das Kreuz mach offne Bahn!
Ja, vorwärts, meine Brüder; denn der uns führt, der heißt Immanuel: Der
Herr ist mit uns. Amen.
Christi Lust und Spiel.
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Sprüche 8, 31: „Ich spielte auf seinem Erdboden, und meine Lust ist bei
den Menschenkindern."
Den Schlüssel zu diesem geheimnisvollen Kapitel brauchen wir nicht lange
zu suchen. Er wird uns schon durch die Überschrift in die Hand gegeben.
Diese Überschrift nämlich eröffnet uns, daß das Kapitel von der
wesentlichen Weisheit oder vom Sohn Gottes handle. Christus trägt an
vielen Stellen der Schrift den Namen „Weisheit“. Er sagt selber Matthäus
11, 19: „Die Weisheit muß sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern;”
ferner steht Lukas 11, 49: „Die Weisheit Gottes spricht: Ich will
Propheten und Apostel zu ihnen senden;" und Paulus sagt, Gott habe uns
Christus gemacht zur Weisheit. In unserm Text wird uns nun auch etwas
von dieser selbständigen Weisheit, Christus, offenbart, das, zumal im
Licht der fröhlichen Weihnacht, nicht schwer zu deuten und zu verstehen
ist. Wir betrachten dem Text zufolge:
1\. Christi Lust und\
2. Christi Spiel.
Christi Lust und
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„Meine Lust ist bei den Menschenkindern.“ So Christus. O welch ein
reicher, hoch erfreulicher Sinn blitzt uns aus diesen Worten entgegen!
Sie gleichen einem kostbaren Edelstein, der, wie man ihn wenden und
drehen mag, von allen Seiten schön ist und immer neue Lichter und Farben
ausstrahlt. Unser Herr tut uns hier kund, daß auch er eine Lust hat, ein
Lieblingsvergnügen. Und wo hat er diese seine Lust? Ei, sollte man
sagen, wo anders als da, wo das Holz des Lebens wächst und die Ströme
lebendigen Wassers rauschen, wo er die Krone der Ehren trägt und die
Tausend mal tausend mit ihren goldenen Harfen seinen Stuhl umgeben! Aber
nicht also. Sein Sinn und Gelüst steht anderswohin. „Meine Lust ist bei
den Menschenkindern.” Und wißt, er spricht das nicht etwa im Anbeginn
der Zeiten und am letzten Schöpfungstag. Ei ja, da hätte sich’s unter
den Menschen noch wohl wohnen lassen. Denn es war gut sein unter den
Bäumen Edens, und die Menschen waren schöne, liebe Kinder. Er spricht es
aber zu einer Zeit, da schon alles drüber und drunter ging in der Welt,
da das Dichten und Trachten der Menschen schon böse war von Jugend auf
und die ganze Menschheit, in Sünden tot, verstrickt in den Ketten des
Teufels und mit Gottes Zorn und Fluch beladen, ein erbärmlicher Haufe,
bis über das Haupt im Schlamm stak. Wie billig erstaunen wir doch, daß
unter solchen Umständen der Herr der Herrlichkeit sprechen konnte:
„Meine Lust ist bei den Menschenkindern!"
„Meine Lust.“ Was ist das nun? Mancherlei, Geliebte. Es ist zunächst
dasjenige, was von Ewigkeit her seine allergrößte Freude, ja der höchste
und einzige Gegenstand seines Ergötzens war. Und wie heißt dieser
Gegenstand? Er selbst, Christus; denn er allein ist schön und
liebenswert, und alles andre ist nur schön insoweit, als es ein Teil ist
von ihm und aus ihm geflossen und mit ihm verwachsen. Er hat
Wohlgefallen an ihm selber, denn er ist die einzige, alleinige und ewige
Schönheit. Die Strahlen seiner eigenen Vollkommenheiten und Tugenden,
die ergötzen sein Auge. Und diese seine Augenlust, die wäre bei den
Menschenkindern? Ja, wo wollte sie denn anders sein? Bei den Engeln
etwa? Die haben ihre eigene Herrlichkeit; die Herrlichkeit Christi aber
ist bei den Sündern. Ja, wie wunderbar das klingen mag, es ist Wahrheit;
und das ist noch wunderbarer. Er hat seinen königlichen Purpur
ausgezogen und hat ihn seinen Schafen geschenkt; er hat seine weiße
Leinwand nicht für sich allein wollen behalten, sondern hat sie seiner
Braut gegeben zur Zierde, und das Würmlein Jakob prangt in seinem Glanz,
in seinen Juwelen, Ketten und Kronen. Ei ja, wie sollten wir doch sonst
so getrost sein, wenn nicht seine Gerechtigkeit ihre Sünden bedeckte?
Woher sollte uns doch dieser freudige Ausblick kommen zu dem, vor
welchem die Himmel nicht rein sind, wenn wir nicht wüßten, daß wir
bekleidet seien mit der Reinheit des Allerreinsten und mit der
Heiligkeit des einzig Heiligen? Wie sollten wir geknickte Röhrlein doch
so trotzig allen Teufeln und ihren Kriegsgeschwadern gegenüberstehen,
wären wir uns nicht bewußt, daß wir an seiner Helden- und
Königsherrschaft Teil empfangen hätten? Wie sollten wir so in die
feurigen Ungewitter des nahenden Gerichts hineinschauen können, wären
wir nicht vom Kopf bis zu den Füßen in seinen glänzenden Gehorsam
eingewickelt und könnten wir nicht vor Gott auf seine Weisheit trotzen,
auf seine Liebe, auf seine Herrlichkeit als auf die unsre, als auf ein
wirklich zugerechnet Eigentum! Da wird nun freilich mancher denken, mit
fremdem Verdienst prangen und in eines andern Glanz leuchten sei eben
keine Kunst. Mag sein, und doch, wer tut’s uns nach? Genug, es ist also.
Seine Lust ist bei den Menschenkindern. „Vater,” spricht er kurz und
unzweideutig, „ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir
gegeben hast." Und diese Herrlichkeit ist seine Lust.
So wie nun der Herr Jesus seine größte Lust hat an seinen eigenen
Vollkommenheiten, so ist das Vergnügen nicht geringer, das ihm seine
eigenen Werke machen. „Denn der Herr hat Wohlgefallen an seinen Werken,“
bezeugt David. Wo ist denn nun sein Werk? Bei den Teufeln in der Hölle?
Behüte Gott! Die waren ihre eigenen Werkmeister und Töpfer und haben
sich selber die Gestalt gegeben. Bei den Engeln im Himmel? Mitnichten!
die haben ihre Kronen erstritten und im Werkbund ihre Herrlichkeit
erarbeitet. Bei den Tugendhaften und Gerechten nach dem Fleisch?
Beileibe nicht; die haben sich selbst gemacht und werden sich auch
selbst vertreten müssen. Wo aber ein Zöllner an seine Brust schlägt:
„Gott, sei mir armen Sünder gnädig!” und ein Bartimäus am Weg schreit:
„Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ wo so ein kanaanäisch Weib von
Hündlein redet und von Brosamlein und eine arme Magdalena sich die Augen
ausweinen möchte zu seinen Füßen; wo ein Paulus jauchzt: „Mir ist
Barmherzigkeit widerfahren,” und ein Asaph: „Wenn ich nur dich habe, so
frage ich nichts nach Himmel und Erde;“ wo ein Simon anfängt zu stottern
und zu stammeln: „Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe!”, und wo ein
Hiob spricht: „Und wenn du mich erwürgen wolltest, so laß ich nicht von
dir!“ seht, wo dergleichen Sachen vorgehen und dergleichen Bewegungen an
den Tag kommen, wo steinerne Herzen zu Ton werden in seiner Hand und
eiserne Stirnen zu Wachs, daß er sein Zeichen drauf drücken kann, und
gläserne Augen wie Brunnquellen, deren Wasser gegen Morgen stießen; wo
Gerechte anfangen, auf den Ruinen ihrer Gerechtigkeit zu girren wie die
Tauben, und Weise zwischen den Trümmern ihrer Weisheit wie die Kraniche
zu winseln beginnen; wo arme Sünder sich ein Herz fassen, Jesus zu
lieben, und verworfene Übeltäter es fröhlich wagen, vor ihren Verklägern
auf ihn als ihren Advokaten und Schirmherrn sich zu berufen; da, da,
liebe Brüder, da ist sein Werk, und wo sein Werk ist, ist seine Lust. So
ist denn seine Lust bei den Menschenkindern, und zwar bei seinen armen
Sündern. Bei denen ist sein Vergnügen, bei ihnen seine Augenweide. Was
dem Naturfreund eine angenehme Gegend, was dem Liebhaber der Malerei ein
schönes Bildnis, das ist dem Herrn Jesus die neue Kreatur in einem
Sünder. Daran kann er sich nicht satt sehen; denn sie ist sein Werk.
Darum spricht er auch zu seiner Taube: „Zeig mir deine Gestalt; denn
deine Gestalt ist lieblich.”
Haben wir nun den Sinn der ersten Worte unsers Textes erschöpft?
Mitnichten. Es liegt noch mehr drin. Der liebe Herr spricht ein wenig
kurz; aber das ist so seine Weise, mit wenigem viel zu sagen, während
wir mit vielem wenig zu sagen pflegen. „Meine Lust ist bei den
Menschenkindern,“ spricht er, hält aber noch ein Wörtlein im Sinn, das
Wörtlein „wohnen”. Warum tut er das? Schämt er sich vielleicht, diese
seine Liebhaberei zu armen Sündern auszusprechen? Ja, ihr kennt unsern
Heiland nicht. Was sagt Paulus von ihm aus? „Er schämt sich nicht,“
spricht er, „sie Brüder zu heißen.” Also wohnen, wohnen will er unter
uns, und das ist seine Lust. „Der Himmel ist mein Stuhl, die Erde meine
Fußbank; ich wohne aber bei den Elenden.“ Aber, liebster Heiland, wie
kann denn da deine Lust sein, wo deine größte Unlust sein muß; wie
kannst du da dein Vergnügen haben, wo niemand sein Vergnügen hat an dir;
nein, niemand aus sich selber? Wie magst du dich da ergötzen können, wo
alles dich verdrießen und anekeln muß? Ja, sei’s; er bleibt dabei,
„meine Lust ist, bei den Menschenkindern zu wohnen.” Und daß diese Lust
nicht eine vorübergehende Gemütserregung, sondern eine tief gewurzelte
ewige Neigung ist, das hat von Anbeginn der Welt bis auf diesen Tag ohne
Unterbrechung ein Jahrhundert und Jahrtausend dem andern verkündigt.
Da ist nun fürs erste schon einmal ins Auge zu fassen, was für Mühe sich
der liebe Gott schon mit den Menschen gegeben hat, ehe noch ein Mensch
vorhanden war; wie er diesen Herrn der Erde nicht wie die übrigen
Kreaturen in einem Augenblick durch ein „Werde“ seines Mundes und einen
Akt der Gewalt ins Dasein rief, sondern wie er ein Töpfer ward um des
Menschen willen, wie er denselben nach und nach mit vielem Fleiß und
großer Sorgfalt aus einem Erdenkloß bildete und dann, nachdem er den
Staub geformt, dem irdischen Gebilde seinen eigenen, heiligen Gottesodem
in die Nase blies: „da ward der Mensch eine lebendige Seele.”
Kaum sind nun Menschen da, so ist der liebe Heiland auch schon mitten
unter ihnen und wandelt mit ihnen unter den Bäumen des Gartens. Nun
damals, denkt ihr, damals ging’s noch wohl. Das wäre noch nichts
Sonderliches. Aber wie, wenn ich euch nun sagte, durch unsern Fall und
unsre Sünde sei seine Lust, bei uns zu wohnen, erst recht bestärkt
geworden und warm gemacht, solltet ihr das wohl glauben können? Und
siehe, so ist es wirklich. Nun fingen die Eingeweide seiner
Barmherzigkeit gegen uns zu brausen an; denn er hat eine gnädige Seele,
und Retten ist seine Begierde. Und nun erst galt’s in vollem Sinn, was
Sacharja sagt: „Alles Fleisch sei stille vor dem Herrn; denn er hat sich
aufgemacht aus seiner heiligen Stätte."
Und nun, liebe Brüder, sollte ich euch hineinführen in die Tage des
Alten Bundes und euch mit Augen sehen lassen, wie der liebe Heiland von
Anbeginn bei seinen Sündern ist aus- und eingegangen und hat sich Hütten
gebaut unter Staub und Asche. Nun sollte ich mit euch gehen in jene
Wildnis, wo er die Hagar besucht, die ägyptische Magd, und mit ihr
freundlich redet; sollte euch hinausbegleiten jetzt in den Hain Mamre
und euch das liebliche Schauspiel sehen lassen, wie der Herr des Abends
unter den kühlen Bäumen mit Abraham zu Tisch sitzt; sollte dann mit euch
nach Bethel gehen und dann nach Pniel und nach Horeb, wo unser König
statt auf dem Thron in einem brennenden Dornbusch erscheint; sollte dann
ein wenig die Wolken- und Feuersäule auseinandertun, daß ihr auch hier
sein Angesicht erblicktet. Denkt nur, 40 Jahre lang in einer Wolke des
Tages, des Nachts in einem scheinenden Feuer, und das, um einem
halsstarrigen Volk Wegweiser zu sein und Bedeckung und Schild und
Laterne im Dunkeln; es ist erstaunlich: was gehört nicht dazu für eine
Lust zu Menschenkindern! Nun sollte ich euch ferner bringen nach Ophra,
wo Gideon den lieben Heiland unter einer Eiche sitzen sieht, und dann
nach Jerusalem in den Tempel, wo er wohnt über dem Gnadenstuhl. Das
sollte ich tun; aber liebe Brüder, wozu die weiten Reisen? Wir haben’s
näher; wo sind wir heute? Zu Bethlehem, nicht wahr? Nun, da guckt in den
Stall hinein und in die Krippe! Was seht ihr da? „Ein Kind!“ Jawohl, ein
Kind, und zwar dasselbe, das da gesagt hat: „Meine Lust ist bei den
Menschenkindern.” Gott im Fleisch, Gott in der Krippe, Gott in Windeln,
Gott an einer Mutter Brüsten! Hier steht der Verstand einem still, hier
beben einem die Knie, hier entsetzt sich das Herz; das Wunder ist zu
groß für schwache Menschen. Gut, daß unsre Augen blöde sind, gut, daß
wir’s nur aus der Ferne schauen und kaum den tausendsten Teil davon
verstehen; es würde uns das Leben nehmen, es würde uns erdrücken, wir
könnten’s nicht ertragen. Ja, wie er bei Israel war und mit Israel
verkehrte, das war ihm noch kein rechtes Wohnen bei den Menschenkindern;
das war ihm noch ein zu fremdes Verhältnis, eine zu laue Freundschaft.
Er Gott und sie arme Sünder, die Kluft war allzuweit. Gleich und gleich
gesellt sich besser. Da ward er selbst ein Menschenkind, unser
Blutsverwandter, unser Bruder. Ja, wir können das so dahin sagen, als
wäre es nichts, und Seraphinen sitzen nun schon an die zweitausend Jahre
auf ihren Hügeln und schauen hinunter in diesen Liebesabgrund und können
den Boden nicht erreichen und können nicht aufhören zu erstaunen, und
der Stoff zu allen ihren Hallelujagesängen wird nur aus dieses Brunnens
Grund geschöpft.
Was hat den Herrn nun dazu getrieben? Doch rein nichts andres, als weil
er Menschen wollte und keine Engel bloß. „Meine Lust ist bei den
Menschenkindern.“ Woher aber ist ihm diese gekommen? Woher? Aus seinem
eigenen Herzen, und hier sind wir am Ende: weiter schauen wir nicht
durch. Und nun wißt, liebe Brüder, obgleich er nun nicht mehr im
Kripplein liegt, so ist er doch noch Mensch und unser Bruder bis auf
diesen Tag, obgleich er wieder auf dem Thron sitzt, und hat noch immer
ein menschlich, brüderlich Herz und ist versucht in allem gleichwie wir,
daß er wohl Mitleid haben kann mit unsrer Schwachheit. Und obgleich wir
ihn nicht mehr können auf die Arme nehmen, wie Maria damals und Simeon,
so ist darum seine Lust, bei den Menschenkindern zu wohnen, um nichts
geringer geworden und sein Wohnen unter uns noch ebenso nah, ja viel
näher noch und inniger. Und es ist nun ein Wohnen und kein Herbergen
mehr, noch zu Gast sein, noch ein Aus- und Eingehen; darum sagt er uns
auch, so wie er sei im Heiligtum und in der Höhe, und da ist er ja
immer, so sei er auch bei den Seinen auf Erden, also auch da beständig.
Er ist unser Hausgenosse. Halleluja! Und was für ein Hausgenosse? Ein
vornehmer Herr etwa, da es schon Ehre und Gnade genug wäre, daß er nur
bei uns abgestiegen und wir ihm aufwarten könnten, von dem wir aber
keine Gegendienste begehren dürften? Ei, bewahre! Er will dienen, und
wir sollen uns dienen lassen, das sagte er selbst. O welch ein
liebenswerter, teurer Gast! So wird er denn wohl ein Ratgeber sein, den
wir in wichtigen Angelegenheiten fragen dürfen? In wichtigen
Angelegenheiten, warum denn nur in denen gerade? Er will gehalten sein,
als gehörte er in die Familie, will bei allem selbst mit anfassen und
zur Hand gehen, im großen und im kleinen, im wichtigen und geringen. Ihr
sollt nur alles vor ihn bringen. Und denkt nur gar nicht, er sei gar zu
andächtig, daß ihr nur in geistlichen Dingen mit ihm sprechen dürftet.
Ich sage euch, er will sich bekümmern um das Mehl im Kad und um das Öl
im Krüglein. Er will fragen nach dem Vorrat des Brots im Schrank und des
Fleisches in den Töpfen. O daß ihr Glauben hättet, ihr würdet die
Herrlichkeit des Herrn sehen. Israel, Israel, wo ist ein Volk, zu dem
sich Götter also nahe tun, als zu uns der Herr, unser Gott, so oft wir
ihn anrufen, der an unsern Betten wachen, in unsern Werkstätten Helfen
will, und dessen Sorge sich erstreckt bis auf die Fischlein in der
Pfanne, „denn seine Lust ist bei den Menschenkindern.”
Christi Spiel.
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Dies Wohnen nun des lieben Herrn bei den Menschenkindern ist ein
Spielen. Er sagt es selbst. „Ich spielte auf Gottes Erdboden,“ spricht
er. Nach dem Grundtext: „Ich spielte, und ich spiele.” Der Herr Jesus
und Spielen, wie paßt das aber zueinander? Es wird wohl passen; wie
sagte er es sonst? Laßt uns denn mit Christi heiligem Spiel uns näher
bekannt machen.
Daß der Herr Jesus im buchstäblichen Sinn auf Erden gespielt habe, warum
sollte man sich das nicht denken; war er doch einmal ein Kindlein wie
andre Kindlein auch, ihnen in allem gleich, die Sünde ausgenommen. Hatte
er doch einmal eine Zeit, da sein Herz noch unbeschwert war und seine
Augen noch heiter und tränenleer, wie zwei Helle Sternlein; da seine
Füßchen noch nicht wund und blutig waren von den Disteln und Dornen der
Opferstraße, und Schmach und Kreuz und Tod und alles noch vor ihm
verschleiert im Schoß der Zukunft lag. Da wird er ja kein mürrisch und
trübselig Knäblein gewesen sein, sondern heiter und freundlich, weshalb
er auch Gnade fand, nicht allein bei Gott, sondern auch bei Menschen,
wie Lukas sagt. Und ei, was für ein holdselig Spielen wird das gewesen
sein auf seiner Mutter Schoß und an der Mutter Brust, wenn er sie wird
angelächelt, gestreichelt und mit seinen Händlein sie umhalst haben! Die
lieben Engel Gottes mußten ihre Lust daran sehen und mögen oft dazu
gekommen sein, um mitzuspielen. Und was für ein Anlächeln und Spielen
wird das mit dem alten Simeon gewesen sein, da er das Knäblein auf den
Armen wiegte, daß der alte Mann schier darüber selbst zum Kind wird und
tut und hüpft und weint und lacht in einem Atem, als ob ihm, wer weiß
was, geschehen wäre; ja, als hätte er nun alles, als wäre er schon im
Himmel! Doch das Wörtlein „spielen" bezeichnet auch noch andre Sachen,
wie wir sehen werden.
Im Text spricht der Herr zunächst von den Tagen der Schöpfung. „Da,“
sagt er, „als der Vater den Grund der Erde legte, da war ich der
Werkmeister bei ihm und hatte meine Lust täglich und spielte vor ihm
allezeit, und spielte auf seinem Erdboden.” Was will er damit nun wohl
sagen? Nichts andres dünkt mich, als daß er den Erdboden gemacht habe,
nicht allein mit Weisheit, sondern auch mit Liebe, nicht allein zu Nutz,
sondern auch zur Freude und Ergötzung seiner Menschenkinder, an die er
damals schon mit Zärtlichkeit gedacht habe. Ja, liebe Brüder, als er die
Blumen kleidete auf den Feldern und zog den Lilien ihr Sonntagsröcklein
an; als er den Himmel blau färbte und die Blumen schmückte mit
lieblichem Grün; als er Berge schuf und zwischen den Bergen die
angenehmen Gründe, die stillen, trauten Täler mit den kühlen Bächlein;
als er den Vögeln im Gezweig die süßen Stimmen gab und die Lerchen in
den Lüften Psalmen singen lehrte; als er so am Verzieren war und
Schmücken, am Färben und am Kränzen, da spielte er auf dem Erdboden. Und
als er es so einrichtete, daß die äußerlichen Gegenstände der Natur
zugleich Buchstaben und heilige Schriften wurden, die wir freilich jetzt
nur stückweise noch verstehen können; als er die Kreaturen zu Hüllen und
Bildern unsichtbarer, geistlicher Dinge machte und allerlei hohe und
ewige Wahrheit darin verschloß als in anmutige Rätsel und
Zeichenschrift, daran wir ja noch heute buchstabieren; als er z.B. die
Sonne setzte zu einem Bildnis seiner selbst und in ihrem Wirken sein
Wirken im Bereich der Geister anschaulich machte; als er dem
Samenkörnlein gebot, daß es im Verwesen und im Keimen mit zartem
Sümmchen uns zu verstehen gebe: „Es sei denn, daß jemand von neuem
geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen," und als er den
Schmetterling, der sich mit farbigen Flügeln auf den Rosen wiegt, uns
zum holdseligen Prediger bestellte von Tod und Auferstehen und künftiger
Freiheit aller Kinder Gottes; da, da war unser Jesus der Werkmeister vor
dem Herrn und spielte auf dem Erdboden.
Und am Spielen ist er geblieben. Wenn ein Erwachsener mit einem kleinen
Kindlein sich abgeben will, sagt, kann das anders wohl geschehen, als
mit Spielen? Und so hat auch der Herr gespielt, mit seinen armen,
schwachen Menschenkindern. Jedes Herablassen zu menschlichen Begriffen,
Vorstellungen, Wünschen und Ausdrücken war für ihn ein Spielen. Ach,
hört doch nur allerwärts in seinem Wort, wie er da so lieb und hold und
kindlich lallt und stammelt mit seinen schwachen Kindlein, wie er sich
nicht schämt, ihre armselige Sprache sich anzueignen und ihnen sich
verständlich zu machen in ihrem eigenen, gebrochenen Kinderdialekt, der
ja ein Kauderwelsch vor seinen Ohren sein muß und ihn nicht anders
antönen kann als uns das erste Stammeln eines kleinen Säuglings. Seht
nur, wie er überall zu unsern menschlichen Begriffen heruntersteigt, um
uns nur nah zu kommen, um uns nur faßlich und erkenntlich, um nur ein
Gott zu werden für Staub und Asche, für arme blöde Sünder! Merkt darauf,
wie er hier von „gereuen" spricht; es gereue ihn dies und das, und
eigentlich kann ihn doch nichts gereuen, und wie er uns dort versichert,
sein Vaterherz blute und sei zerrissen, und wie er dann, um uns von
unsrer zukünftigen Herrlichkeit einen Begriff zu geben, die Bilder
hernimmt von unserm menschlichen Spielzeug, von unsern kindlichen
Ergötzungen, von Gastmählern, Hochzeiten, schönen Häusern und Palästen,
von bunten Steinen, von glänzenden Metallen, von grünen Bäumen und von
süßen Früchten! Und dieses herablassende Eingehen in unsre kindischen
Begriffe und Gedanken, um uns allmählich wie auf einer Leiter zu den
seinen zu erheben, ist das nicht ein Spielen mit kleinen Kindern von
seiten des großen Gottes? Und fürwahr, wer diesen in seinem Wort mit uns
lallenden und stammelnden Gott noch nicht gefunden hat, der hat Gott
überhaupt noch nicht gefunden.
Nun gedenkt auch an die Art und Weise, wie er seine Geheimnisse uns
pflegt nah zu bringen, und wie er uns den Glauben stärkt an seine
Zusagen und Verheißungen! Auch das geschieht wieder kindlich spielend
als mit Kindern. Da stellt er uns, wie man Kindern zu tun pflegt,
allerlei bunte und schöne Bildlein und Figuren vor die Augen, die unsre
Blicke auf sich ziehen, und dadurch macht er uns denn begreiflich und
lehrt uns fassen und anschauen, was wir sonst gar nicht würden fassen
noch begreifen können. Da hängt er uns z.B., um uns die Verheißung, die
er Noah gab, frisch im Gedächtnis zu erhalten und gewiß zu machen, ein
schön, farbig Band in die Wolken mit sieben Farben, daran wir unsre
Augen weiden. Von diesem Bändlein sagt er uns, so oft er’s sehe, wolle
er daran gedenken, daß er den Erdboden nicht mehr verfluchen wolle; als
ob sich Gott so ein Gedenkzeichen vor die Augen hängen müßte, um nicht
zu vergessen! Aber er wußte, uns werde das gar tröstlich sein und unsern
Glauben stärken; darum spielt er mit uns Kindern. So spielte er auch mit
Gideon gar gnädiglich, als er in dessen kindisches Begehren so ganz sich
einließ und so bald und gern das seltsame Wunder tat, das Gideon als ein
neues Siegel unter die Verheißung, die er vom Herrn empfangen hatte, von
ihm forderte. Zuerst sollte Tau sein auf dem Fell allein und auf der
ganzen Erde trocken, dann trocken auf dem Fell und Tau auf der ganzen
Erde. Und Gott tat also, beides, eins nach dem andern, wie’s Gideon
begehrte. Welch freundlich Spielen! Aber, der also spielt, ist Gott, und
Gottes Spiel hat allzeit tiefen Sinn. So wie der Herr in Noahs
Regenbogen zugleich das Bildnis des verheißenen Mittlers malte mit
zarten Zügen für geistlich Sehende, so verbarg er nebenbei in jenes
Wunder, das er dem Gideon zu Gefallen tat, die Prophezeiung, wie es in
Zukunft gehen werde mit dem Himmelstau seiner Offenbarungen und seiner
Geistesgaben. Erst Tau auf Israel allein und auf der ganzen Erde
trocken; und dann Tau auf der ganzen Erde und trocken auf Israel allein.
Wie artig und bedeutsam spielte die wesentliche Weisheit mit den
Menschenkindern in der Stiftshütte und im Tempel Salomos, da sie durch
allerhand buntes und seltsames Bild- und Schattenwerk die allergrößten
und seligsten Geheimnisse ihnen nahe brachte, und wie kindlich lallt sie
bis auf diesen Tag mit uns von den größten Wundern und heiligsten
Wahrheiten durchs Taufwasser und durch des Nachtmahls Zeichen und
Unterpfänder! Ist das nicht auch ein Spielen Gottes mit schwachen
Kindern, die etwas Sinnliches und Bildliches haben müssen, um verstehen
und glauben zu können? Ja, ein gnädiges, ein holdseliges Spielen!
Und wieviel ist dieses Spielens auch in seinem Umgang mit uns, in seinem
täglichen Verfahren mit seinen lieben Kindern! Wenn ihr’s nur immer
wüßtet, daß es nur ein Spielen sei; ihr aber seht’s gewöhnlich als sehr
ernsthaft an und macht euch darum viel überflüssige Sorgen. Da
geschieht’s zum Beispiel bald, daß er sich vor uns verbirgt; nun meinen
wir, er sei davongegangen und habe uns verlassen. Er aber spielt nur und
hat sich bloß verborgen; unsre Stimme will er hören: „Herr, kehre
wieder!“, denn unsre Stimme klingt ihm süß. Bald ereignet sich’s, daß es
den Schein gewinnt, als gereue es ihn nun wieder, uns verziehen zu
haben. Da kommen denn alle unsre alten Sünden, die wir längst in
Meerestiefen begraben glaubten, uns wieder vor die Augen, daß wir aufs
neue zittern, wie in der ersten Buße. Aber er spielt nur mit uns und
möchte die erste Liebe wieder wecken in unsrer Seele. Bald läßt er
plötzlich mitten im Stand der Gnade uns Blicke tun in die Größe unsrer
begangenen Missetaten, wie wir sie noch nie darin getan. Da ist’s, als
müßten wir nun wieder vor seinem Zorn uns fürchten; allein, es ist nur
Spiel; er tut’s, damit uns sein Verdienst nur desto süßer schmecke. Bald
erlaubt er’s unserm Urfeind, daß er die Hand ausstrecke nach unsrer
Krone und einen Versuch mache, das Fundament all unsers Trostes und
unsrer Hoffnung unter unsern Füßen zu erschüttern. Da heißt es denn:
„Herr, hilf uns, wir verderben!” Indes so groß ist die Gefahr nicht, wie
wir meinen. Genau besehen ist es nur ein Spiel von seiten Gottes. Er
läßt es geschehen, damit wir desto fester fassen und umklammern sollen,
was wir haben; nicht aber, wenn’s auch so scheint, daß wir’s verlieren.
Und wenn er uns allerlei Rätsel aufgibt in unsrer Führung, woran wir
unsern geistlichen Scharfsinn üben können; und wenn er die
allergeringsten Umstände in unserm Leben aufgreift und benutzt, um
dadurch etwas Tröstliches, Lehrreiches oder Nützliches uns an das Herz
zu reden; wenn er die unbedeutendsten Gegenstände, die uns in unserm
alltäglichen Treiben begegnen, uns so höchst geschickt und artig zu
beredten Bildern macht von allerlei lieblichen, geistlichen Dingen und
zu Gedenktäflein, sei es an eine Lehre oder Warnung, an einen
Trostspruch oder eine Verheißung und Geschichte in seinem Wort; wenn er
auf unsre kleinsten Wünsche so zarte Rücksicht nimmt und in den
geringfügigsten Angelegenheiten so leutselig mit seinem Rat und Segen
uns überrascht und beim Bibellesen mit heiligem, wunderbarem Witz, wenn
ich so sagen mag, bald hier, bald dort die unbedeutendste Begebenheit,
den ärmsten, unfruchtbarsten Auftritt oder Umstand uns in ein tiefes,
erquickliches, geheimnisreiches Sinnbild oder Gleichnis wandelt und
Feigen zaubert an die Distel und süße Trauben an Dornensträuchlein, so
ist das alles ein zärtlich Spielen Gottes bei und mit den
Menschenkindern.
Wollt ihr nun endlich bei dem Wörtlein „spielen“ auch noch ans
Musizieren denken, so mag die Weisheit auch in diesem Sinne sagen: „Ich
spielte und spiele auf dem Erdboden.” Ja, alle Musik, die er selber sich
nicht macht auf Erden, ist Mißklang vor seinem Ohr und wie Gekrächze der
Raben. Wie er es war, der der Harfe Davids so süßen Klang verlieh und
ihre Saiten rührte auf den Hügeln Bethlehems und die lieblichen Psalmen
sang durch den Mund des königlichen Sängers, so ist er’s noch bis auf
diesen Tag, der seinen geistlichen Vöglein die Lippen öffnet und den
Wohllaut legt in ihre Stimme, der den Psalter rührt in ihrer Brust und
der da spielt auf den verborgenen Saiten ihrer Seele mit dem Hauch
seines Mundes. Er ist in ihrem Seufzen und Jauchzen, in ihren
Liebesklagen und Lobgesängen, in ihrem Geschrei zum Kreuz und ihrem
Frohlocken auf den Bergen der Versiegelung, ja in jedem Ach und O des
neuen Herzens, in jedem „Hosianna“ der Huldigung und jedem „Heah”
heiliger Freude und in dem großen, allgemeinen Tempelchor des sehnenden
Jerusalem: „Ach komm, Herr Jesus, ja komme bald! Amen." Darin ist er,
der Herr und sein Geist; er ist der Spieler und Musizierende auf unsern
Herzensharfen, und nur die Lieder, die er aus uns sich selber anstimmt,
fallen harmonisch in sein Ohr, wie arm und wie verstümmelt sie auch zum
Vorschein kommen.
Seht, meine Brüder, in dieser Weise ist seine Lust bei den
Menschenkindern, und solche Spiele spielt er auf dem Erdboden!
Glückselige Leute, die den Herrn Zebaoth selber zum Gespielen haben!
Aber ihr wißt ja, mit großen und verständigen Leuten spielt man nicht.
Ach laßt uns Kindlein werden, liebe Brüder, unmündige, kleine Kindlein!
Nach solchen steht Immanuels Sinn; nur unter Kindern mag er wohnen, und
wo er wohnt, gewiß, da ist es gut sein und schon ein wenig Himmels in
der Wüste. Darum singt auch einer:
„Und wär’s eine Hütte von Holz und Stroh,\
Ist er bei mir, so bin ich froh.\
Und wär’s eine Wüste, ein Scheiterhaufen,\
Ich will mit Freuden durchs Feuer laufen,\
Geht er nur mit!"
Ein lieblich Verslein! Wann wird der Herr einmal so etwas auch auf den
Saiten unsrer Harfen spielen? Ach tu es bald, Herr Jesus; werde uns
recht köstlich und alle Tage süßer und vertrauter und stell uns zu
Hütern jener Liebe, die deine Lust gekettet an verkommene Menschenkinder
und dir ein kindlich Spielen auf der Erde mit armen Sündern zur höchsten
Freude machen konnte!
Das Nachtgesicht.
=================
Sacharja 1, 8: „Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann saß auf einem
roten Pferde, und er hielt unter den Myrten in der Aue, und hinter ihm
waren rote, braune und weiße Pferde."
Die Weissagungen Sacharjas gehören zu den süßesten und angenehmsten
Früchten, die vom Baum des Alten Testaments herunterhängen. Dieser
Prophet hat viel Ähnlichkeit mit Jesaja und Hesekiel. Glühend wie der
letztere und reich wie er an erhabenen Bildern und wundersamen,
großartigen und geheimnisvollen Gesichten, verdient er mit Jesaja den
Namen eines alttestamentlichen Evangelisten. Der Gesalbte Gottes mit
seinem Reich bildet den Mittelpunkt und die Achse, um welche sich das
Feuerrad aller seiner flammenden Offenbarungen, Bilder und Visionen
herumdreht; und auch auf dem Gemälde, das Sacharja heute vor uns
hinstellt, ist Christus der Mann, der, alle andern Gestalten um sich her
verdunkelnd, als Hauptperson im Vordergrund uns entgegentritt. Es ist
ein schönes, tröstliches Gesicht. Laßt es uns näher anschauen! Wir
betrachten:
1\. die Zeit, in welcher das Gesicht gesehen wurde, und\
2. das Gesicht selber in seiner tröstlichen Bedeutung.
Die Zeit, in welcher das Gesicht gesehen wurde.
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Die Zeit, in welcher Sacharja das Gesicht gesehen, gibt er selber an.
„Ich sah,“ spricht er, „bei der Nacht.” Er meint zuförderst die
natürliche Nacht, wenn die Leute schlafen. Da ist der Herr zu ihm
gekommen, da hat er ihm die inwendigen Augen aufgetan und das
herzerhebende Gesicht wie ein Gemälde mit Hellen, leuchtenden Farben an
ihm vorübergeführt. Der Herr wollte der Wahrheit, welche durch das
Gesicht geoffenbart werden sollte, nämlich daß der Hüter Israels nicht
schlafe noch schlummere, zugleich einen Tatbeweis beifügen, um sie desto
nachdrücklicher zu machen; darum tritt Er zum Propheten nicht am Tag,
sondern in dunkler Nacht. Von solchen Nachtbesuchen Gottes wissen fast
alle Heiligen des Alten und Neuen Testamentes nachzusagen, und der weise
Elihu redet davon zu Hiob als von etwas sehr Gewöhnlichem. „Im Traum,“
spricht er, „in der Nacht, wenn der Schlaf auf die Leute fällt, wenn sie
schlafen auf dem Bett, da öffnet er das Ohr der Leute und schreckt sie
und züchtigt sie, daß er den Menschen von seinem Vornehmen wende, und
beschirmt ihn vor Hoffart.” O wie mancher hat das schon erfahren und
seine erste Bekanntschaft mit dem Herrn wie Nikodemus zur Nachtzeit
machen müssen! In der Nacht, wenn die Glieder feiern, wenn der Mensch
mit seinen Sinnen von Dunkel und Schweigen umschlossen und von dem
Wogenschlag des alltäglichen Geschäftslebens zurückgetreten ist, dann
hört die Seele schärfer, dann bewegen sich die Gedanken freier und
ungehinderter, dann gehen die Betrachtungen tiefer ein, dringen zum
Grund und werden nicht aufgehalten unterwegs. Da schmettert die Trompete
des göttlichen Wortes Heller, da donnern die Flüche lauter, da klingt
das Bußgeläut des Gewissens schauerlicher, und wenn da das Gesicht
unsrer Sünden, das Gesicht unsers leeren und verfehlten Lebens, das
Gesicht unsrer gebrochenen Gelübde und Vorsätze, das Gesicht unsrer
Unlauterkeit und Verstellung, das Gesicht des Todes, der unser harrt,
das Gesicht des zukünftigen Gerichtes, dem wir entgegengehen, das
Gesicht des blutenden Heilandes, den wir verraten; wenn diese Gesichte
dann gespensterartig in die stillen Kammern hereinbrechen und um unser
Bett sich stellen und vor unsre Augen sich hängen, ja, das tut Wirkung.
Wohin vor solchen schauerlichen Bildern? In die Gesellschaft lustiger
Freunde? Die liegen auf ihren Betten und schlafen. In das zerstreuende
Geräusch der Werkstatt? Die ist geschlossen. Auf den Markt und in die
Gassen unter das Gewühl der Leute? Die Gassen sind leer, und auf dem
Markt ist’s still. Es ist Nacht und nichts vorhanden, womit man die
Ohren betäuben, die Augen verhängen und die Gedanken des Ernstes
verjagen könnte. Da wird denn das Schiff des Herzens auf den Unruhwogen
hin und her getrieben; man wirft Anker aus hierhin, dorthin, aber die
Anker haften nicht; man sieht sich nach einem Hafen um für das arme
Herz, aber sieh, in allen Häfen stürmt es, wie auf der offenen See, und
man schwebt zwischen den Abgründen; man will den Sturm besprechen und
ruft sich selber zu: „Gib dich zufrieden! Es hat ja nicht Gefahr, was
sorgst du?“ Aber kein Trostgedanke haftet. Das Ungestüm wird ärger, bis
man den gefunden, der seine Arme auseinandertut, der zum Meer spricht:
„Verstumme!” Da wird es still, und da streicht man die Segel und liegt
vor Anker. Unzählige Christen wissen von solchen schauerlichen, aber
nicht minder heilvollen Nachtstücken aus ihrem Leben zu erzählen und
können mit Hiob sprechen: „Da ich Gesichte betrachtete in der Nacht,
wenn tiefer Schlaf auf die Leute fällt, da kam mich Furcht und Zittern
an, und alle meine Glieder erschraken. Ein Geist wandelte vor mir
vorüber, mir standen die Haare zu Berge an meinem Leib. Da stand ein
Bild vor meinen Augen; es war still, und ich hörte eine Stimme: Wie mag
ein Mensch gerechter sein denn Gott, oder ein Mann reiner sein, denn der
ihn gemacht hat?“ O ihr, die ihr bei Tag an den brausenden
Wasserstrudeln des Weltlebens die Stimme Gottes überhört, möchte denn
auch euch in solchen Nachtgesichten und solchen Nachtbesuchen bald diese
Stimme deutlicher zu hören gegeben werden! Ja, lieber die nächste Nacht
als die darauffolgende, heiße es auch zu euch, wie einst zu David:
„Wirst du nicht diese Nacht deine Seele erretten, so wirst du morgen
sterben!” Denkt an das Gesagte, meine Brüder, wenn ihr die nächste Nacht
auf eurem Bett liegt!
„Ich sah in der Nacht,“ sagt Sacharja und bezeichnet mit dem Wort Nacht
zugleich auch die Zeitumstände, unter welchen er das Gesicht gesehen.
Sacharja lebte etwa 500 Jahre vor Christi Geburt, war mit seinen Eltern
in Babylon gefangen, kehrte dann, infolge der Erlaubnis des Königs
Cyrus, mit dem ersten Haufen aus der Gefangenschaft nach dem Vaterland
zurück und half den Grundstein der neuen Stadt und des neuen Tempels
legen. Das war damals eine angenehme Zeit, eine Zeit des Jubels und der
seligsten Hoffnungen. Auf die unzweideutigste Weise hatte sich der alte
Bundesgott wieder für sein Israel bekannt, und alles war voll freudiger
Erwartungen der goldenen Zeiten, die nun kommen würden. Da war es nicht
Nacht, sondern Heller Tag über Israel. Aber diese Herrlichkeit währte
nicht lange. Die Samaritaner machten einen Strich dadurch. Kaum nämlich
war der Wiederaufbau der Stadt und des Tempels mit Freude und Eifer
begonnen, da erboten sich diese Fremdlinge, die mehr Heiden als Juden
waren, mit den Israeliten gemeinschaftliche Sache zu machen und dann
auch an dem Eigentumsrecht des Tempels gleichen Teil zu haben. Das
konnte nicht zugegeben werden. Da setzte es böses Blut. Die Samaritaner
schreiben nach Babylon an den persischen Hof, schwärzen die Bewohner
Jerusalems als ein ungetreues, aufrührerisches Geschlecht aufs bitterste
an, finden Glauben, und siehe, es erfolgt ein königlicher Befehl, nach
welchem der Bau der Stadt und des Tempels unterbleiben sollte, und der
den Samaritanern erlaubte, mit Feuer und Schwert diesen Bau zu
verhindern. Da trat nun eine betrübte Zeit ein, eine Zeit der Unruhe,
des Getümmels und der Hoffnungslosigkeit. Die schönsten Aussichten waren
plötzlich wieder verdunkelt und Gott schien seines Israels wieder ganz
und gar vergessen zu haben. Der lieblichste Morgen war unversehens
wieder von einer stockfinsteren Nacht verschlungen, und auch diese Nacht
meint Sacharja, wenn er spricht: „Ich sah in der Nacht.” Und es scheint,
als ob diese äußere Nacht auch in sein Inneres hineingedrungen wäre; es
scheint, als ob sich unter diesen betrübten Umständen auch in seiner
Seele der Tag geneigt hätte und der Abend hereingebrochen wäre. Ja, wie
sollte es auch nicht? Die Umstände waren ganz dazu gemacht, um die
Gemüter der Gläubigen mit Bewölken der Zweifel und der Verzagtheit zu
umziehen; da war ja nichts mehr zu sehen von Gottes Nähe, Schirm und
Schutz. Und dennoch, wie dunkel es auch aussah nach außen und nach
innen, Sacharja kann von sich sagen: „Ich sah bei der Nacht, und siehe!"
„Ich sah bei der Nacht.“ O wer das sagen kann, der hat die Nacht
überwunden. Denn alle Nacht im Geistlichen ist nur in dem Maß Nacht und
schauerlich, in welchem uns das Sehen benommen, das Auge verdunkelt ist.
Nacht ist es in unserm Leben, wenn uns die dunklen Lose fallen, und die
Hand ist nicht zu sehen, die sie geworfen. Es ist in unserm Leben Nacht,
wenn die Wüste der Verlegenheit uns aufnimmt, und kein Ausweg ist
wahrzunehmen, weder zur Rechten noch zur Linken. Es ist Nacht, wenn ein
Feuer fährt in den Bau unsers zeitlichen Glückes, und es ist nicht zu
schauen, woher die Flammen kamen, welche Ehre, Wohlstand und häusliche
Ruhe uns wegfressen, ob vom Himmel, ob aus der Hölle, oder ob sie sich
von ungefähr entzündet haben. Es ist Nacht, wenn alle Welt uns
verlästert und verkennt und wir Gott zum Zeugen anrufen, aber da ist
keine Stimme noch Antwort noch Aufmerken. Es ist Nacht, wenn wir in den
Tiefen der Not versunken liegen und Schlag auf Schlag uns trifft, aber
unser Schreien verhallt in der Luft, unser Beten ist wie verloren; keine
Hilfe erscheint, kein Beistand wird gespürt, keine Aussicht will sich
öffnen, kein Aufschluß wird gegeben, und unsre Gänge im dunkeln Tal
bleiben uns ein unauflösliches Rätsel, ein unbegreifliches Geheimnis,
dessen Bedeutung und Zweck und Ausgang auch nicht von fern zu erraten
und abzusehen ist. Dann ist Nacht hereingefallen in unser Leben; denn
das große Licht, das den Tag macht und regiert, ist untergegangen vor
unsern Augen, und man ist der Mann, von welchem Hiob sagt: „Sein Weg ist
verborgen, und Gott hat denselben vor ihm bedeckt und verzäunt.” Da wird
einem denn wohl einmal plötzlich der Tag hereingeboren in die Nacht, wie
dem Hiob, da ihm gezeigt wurde der Sinn und das heilvolle Ziel seiner
ganzen Führung, wie der Hagar, da der Engel sie überraschte am Brunnen
in der Wildnis, wie dem Abraham, da es vom Himmel rief: „Leg deine Hand
nicht an den Knaben,“ und aller seiner Not mit einmal ein Ende war, wie
dem Jakob, da es zu ihm hieß: „Du hast mit Gott und Menschen gerungen,”
und der Herr den Segen über ihn sprach in der Nacht nach dem sauren
Kampf. Und ähnliches erfuhren in diesen Tagen auch manche unter euch,
daß die Hilfe in ihr Leben fiel wie ein Blitz, daß die Errettung ins
Haus trat wie ein unerwarteter Gast; daß ihre Not zerrann wie ein
Nebelgewebe an den Bergen, und daß ihnen Licht ward plötzlich über die
Absicht ihrer Führung. Aber, das heißt nicht sehen bei der Nacht; da ist
ja die Sonne wieder da, da bricht ja der junge Morgen wieder glühend
herein in die Höhle Adullam, da läßt sich Gott wieder schauen und
greifen, daß man sagen muß: „Du hast mir die Nacht in Tag verkehrt.“
Aber wenn die Sonne hinter den Wolken verborgen bleibt und die Füße des
Allmächtigen in tiefen Wassern und der Mensch nun blindlings den Fels
umklammert, von welchem geschrieben steht: „Alle seine Werke sind
unsträflich,” und sich beruhigt im nackten Glauben an das Wort: „Was ich
jetzt tue, das weißt du nicht; du wirst es aber hernach erfahren,“ und
glaubend gegen die Vernunft und hoffend, wo nichts zu hoffen ist, auf
den Gott sich lehnt, der da gesagt hat: „Laß mich sorgen, und wenn du
durchs Wasser und Feuer gehst, so sollen dich die Ströme nicht ersäufen
und die Flamme nicht anzünden, denn ich bin bei dir;” und wenn er in
diese Verheißungen sich lagert, wie in eine Wagenburg, und den Herrn vor
den inneren Augen hat, der zu Manoah spricht: „Was fragst du nach meinem
Namen, der doch ,Wundersam’ ist?“ und aus diesem Namen „Wundersam” Milch
und Honig trinkt mitten in der Einöde; und wenn er, ohne zu schmecken,
zu sehen und zu fühlen, sich getröstet im Anblick des Gottes, der einen
Daniel errettet aus der Löwen Rachen; des Gottes, der die drei Männer zu
erhalten wußte in der Glut des Feuerofens; des Gottes, der einem Fisch
gebieten konnte, daß er dem Jona zur sicheren Arche diene in den
Meeresgründen; des Gottes, der dem Lazarus Hunde schickte, daß sie seine
Schwälen leckten und seine Schmerzen linderten, und dem Elia Raben, ihn
zu speisen und sein Leben zu nähren in der Wildnis; das heißt Gesichte
sehen im Dunkeln, Gott finden hinter der Wolke. Da kann man sagen: „Ich
sah bei der Nacht, und siehe!"
Und es gibt noch andre Nächte als die genannten, Nächte der Seele von
noch betrübterer Art, Nächte wie die, welche David im Auge hatte, da er
sprach: „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, daß ich nicht gleich
werde denen, die in die Grube fahren.“ Aber auch in diesen Nächten gibt
es ein Sehnen mitten im Dunkel; das ist etwas Kostbares und Teuerwertes.
Wenn der Teufel mich anfällt mit seinen höllischen Reizungen und
Feuerpfeilen und kommt keine Hilfe, dann ist’s ja Nacht um mich, und die
Sonne an meinem Horizont gesunken. Aber sieh, da fällt mein Auge
plötzlich mitten im Getümmel auf den Mann, der dem Tod ein Gift, der
Hölle eine Pestilenz ward, und die große Wahrheit wird mir nahegebracht,
daß ich in ihm den Bösewicht schon überwunden habe und er mir wesentlich
nicht mehr schaden könne. Da ward mir’s gegeben, im Anblick meines
siegreichen Hauptes mitten im Streit zu triumphieren und ruhig zu werden
mitten in der Unruhe. Was ist das? Ein Gesicht im Finstern. „Ich sah bei
der Nacht, und siehe!” Wenn ich nach einem schweren Abfall mit Schrecken
erwache und die Verzweiflung mich bereits anficht: „Meine Sünde ist
größer, denn daß sie mir könnte vergeben werden,“ dann sitze ich ja im
Finstern, und das Licht scheint mir nicht. Aber plötzlich fallen meine
Gedanken auf den Ewigvater, der einen Salomo aus dem tiefsten Schlamm
zurückholte, weil er ihm einmal an seiner Wiege versichert hatte: „Ich
liebe dich,” und auf den treuen Hirten, der die 99 Schafe in der Wüste
ließ und dem einen, das sich verlaufen hatte, nachging, bis er es fand,
und mit Freuden auf seinen Achseln heimtrug. O angenehme Blicke! Noch
hat sich der Herr nicht fühlbar zu mir getan; noch kann ich nicht
jauchzen: „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren,“ noch harrt meine Seele
mit Zittern; aber dennoch, Mut und Hoffnung sind wieder da. „Ich sah bei
der Nacht, und siehe, siehe!” Wenn der Herr das Gefühl seiner Inwohnung
mir wegnimmt und das Seine mir entzieht, daß nichts als Sünde mein
bleibt; wenn die Tätigkeiten des geistlichen Lebens plötzlich in mir
ruhen und die Merkmale meines Gnadenstandes ihr Gepräge verloren haben;
wenn der Glaube, der zuvor jauchzen konnte, in ein armes, gepreßtes
Seufzerlein sich wickelt: „Ach Gott, sei mir nur nicht grausam;“ wenn
die Liebe in den Winter geht und zu Reif und Eis wird und die arme Seele
mit David klagen muß: „Ich bin gleich den Toten” und sich zu Juda nicht
mehr zu zählen wagt; und wenn nun das Sündigen kommt ohne Tränen und das
Straucheln ohne rechte Zerknirschung und das Bibellesen ohne Genuß und
das Beten ohne Drang; ach, das soll wohl Nacht und Dunkel sein! Aber
auch in dieser Nacht gibt es ein Sehnen des Glaubens, das sich durch die
Empfindungsarmut nicht irren läßt und kein Schmecken nötig hat. O der
Gott „Amen“ tritt mir im Glanz seiner Treue und Wahrheit in diesem
Todesstand vor die Augen, und ich höre ihn sagen im Geist: „Es sollen
wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von
dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.” Ach, es
wird mir offenbar eine Aussicht eröffnet auf den Gott, der die Gottlosen
gerecht macht und der nichts als leere Gefäße begehrt, um sie mit seiner
Herrlichkeit zu füllen. Ach, es schließt sich vor mir auf das Geheimnis
des Gerechtwerdens nicht durch mein, sondern durch Jesu Glauben, Jesu
Hoffen, Jesu Lieben und Jesu Beten, und wiewohl ich nichts fühle,
schmecke und schaue und mein Herz arm bleibt, verlassen und dürr, wird
mir’s doch gegeben, im nackten Glauben mich aus den Herrn zu werfen, der
da gesagt hat: „Laß dir an meiner Gnade genügen!“ Da ist die Nacht
überwunden; zwar nicht so, daß die Sonne das Gewölk zerrissen hätte und
ihre Strahlen wieder fühlbar in meine Seele würfe; aber so, daß ich mit
dem Glauben durch den Vorhang bin hindurchgedrungen und habe die Sonne
gefunden hinter den Wolken.Da hab ich ein Gesicht gehabt im Dunkeln.
„Ich sah bei der Nacht, und siehe, siehe!”
Das Gesicht selber in seiner tröstlichen Bedeutung.
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„Und siehe!“ Nun, was sah denn unser Prophet? O ein köstlich Gesicht. Da
stand es still und unbeweglich vor seinen entzückten Augen wie ein
Gemälde in wunderbarer Farbenfrische. Nachher kam auch Rede dazu. Aber
ihrer bedurfte es nicht; es lag Rede genug im Bild selbst, freundliche
Worte, tröstliche Worte. Das Gesicht ist voll von Tröstung und
Verheißung, und weil es auch uns angeht, so laßt’s uns etwas näher
ansehen! Sacharja sieht einen Mann, wahrscheinlich in blanker
Waffenrüstung. Der Mann ist, wie aus dem Folgenden erhellt, der
Bundesengel, also Christus. Der trägt mancherlei Gestalt und ist seinen
Kindern alles, was sie unter ihren besonderen Umständen wünschen, daß er
ihnen sein möge. Ist jemand blöd, so enthüllt er sein Mutterantlitz vor
ihm und spricht: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen? Siehe,
ich will dich trösten, wie einen seine Mutter tröstet.” Ist jemand
verirrt, mit dem Hirtenstab tritt er ihm unter die Augen: „Ich will das
Verirrte wiederbringen.“ Ist einer krank, mit Öl und Wein in den Händen
gibt er sich zu schauen: „Ich bin der Herr, dein Arzt.” Ist einer mutlos
und erschrocken, gleich steht er bepanzert mit bloßem Schwert vor seinen
Augen: „Ich bin der Fürst über das Heer des Herrn und bin jetzt
gekommen.“ Fühlt jemand den Zorn Gottes in seiner Seele, so zeigt er
sich ihm als Keltertreter im rotfarbenen Gewand: „Ich trete die Kelter
des Zorns allein.” Ist einer gebunden und gefangen, so erscheint er ihm
als Durchbrecher aller Bande, aller Riegel: „Ich trage die Schlüssel,
beide, der Hölle und des Todes.“ Zur Zeit Sacharjas nun war ein Mann
vonnöten, ein Held; denn es war Kriegszeit, und siehe, sofort war auch
der Hüter Israels als solcher zur Hand. „Ich sah bei der Nacht, und
siehe, ein Mann!” Christus ein Mann, tröstlicher Name! Der erinnert uns
daran, daß ein Mensch unser Gott ist, ein Bruder unser König. Christus
ein Mann, Name voll Süßigkeit! Wir sind sein Weib und haben seinen Namen
und den unsern verspielt für immer und tragen seinen Ring; er kann uns
nicht verleugnen. Christus ein Mann, o erwünschte Erscheinung! Ja, als
Mann sehen wir ihn am liebsten; als Mann lebt er in unsern Gedanken; als
Mann steht er vor uns, wenn wir zu ihm beten. Denn alsdann betet sich’s
so traulich. Und was wäre uns wohl süßer an dem ganzen Christus als
seine Wunden, seine Nägelmale? Das sind die Rosen, die uns unsern Honig
geben, und die Brunnquellen unsers Friedens. Diese Rubinen müssen uns
Tag und Nacht in die Augen scheinen. Aber der Gott hat sie nicht,
sondern der Mann. Darum ist’s uns ein freudig Gesicht, so oft wir sagen
können: „Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann!"
Der Mann, den Sacharja sieht, sitzt zu Pferd. Christus als Reiter, das
ist bedeutsam und tröstlich. Im Hohenlied vergleicht er seine Gemeinde
einem Roß: „Ich gleiche dich, meine Freundin, dem Gespann am Wagen
Pharaos.“ Und unser Prophet sagt Kapitel 10, 3: „Ich will meine Herde
zurichten wie ein geschmücktes Roß zum Streit.” Freilich, wir sind das
Roß, rotfarben durch seine Besprengung, auf welchem er einherreitet. Wir
sind es, geführt am Leitzügel seines Geistes, gezäumt mit seinem Wort,
angetrieben mit dem Kreuzsporn, genährt an seiner Krippe und von seiner
Hand geschmückt aufs allerbeste. Bald gehen wir am Pflug und keuchen
unter dem Joch des Gesetzes; aber dazu ist das edle Roß nicht geboren.
Bald weiden wir frei auf den Triften der Gnade im Stand der
Versicherung; dann heißt es von uns, wie von Hiobs Roß: „Es stampft auf
den Boden und ist freudig mit Kraft und zieht aus, den Geharnischten
entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht und flieht vor dem
Schwert nicht.“ Und wenn die Trompete stark klingt, spricht es: „Hui!”
und riecht den Streit von ferne, das Schreien der Fürsten und Jauchzen.
Aber wenn das Roß sich erheben will in eigener Kraft und Schöne, so
heißt es, wie bei Hosea: „Ich will ihm über seinen schönen Hals fahren,
und Jakob soll eggen.“ Wir sind sein Roß und tragen ihn, so sprengt er
mit uns in die Glieder der Feinde; er schwingt das Schwert für uns und
macht uns offene Gasse, so behaupten wir durch ihn das Schlachtfeld. Und
wenn er einst wiederkommt, werden wir es sein, die seinen Siegeswagen
ziehen und seinen Triumph verherrlichen. Doch in unserm Gesicht bedeutet
das Pferd etwas andres. Wenn Christus als Reiter erscheint, so soll
dadurch die blitzschnelle Hilfe angedeutet werden, mit welcher er bei
vorkommender Not in seiner Kirche zuhanden ist. Als er noch auf Erden
wandelte, da mußte der eine warten, bis dem andern geholfen war, da
wurden nicht selten Klagen laut, wie die zu Bethanien: „Herr, wärest du
hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.” Das ist nun anders.
Nach der Auferstehung hatte er gleichsam schon das Roß bestiegen, daß es
von ihm heißen konnte: „Mein Freund ist gleich einem Reh oder jungen
Hirsch, der hin und wieder hüpft auf den Bergen. Siehe, er steht hinter
unsrer Wand, blickt durchs Fenster und schimmert durchs Gitter.“ Wo Not
war, war auch er: am Tag oder in der Nacht, und ob die Türen verrammelt
waren, plötzlich hieß es: „Friede sei mit euch!”, und er stand in ihrer
Mitte. Und wie oft wird dasselbe erfahren von seinen Kindern, im
Leiblichen und im Geistlichen! Wenn wir ihn oft am fernsten glauben,
klopft’s plötzlich an unsre Tür: „Siehe, da ist er, das Licht strahlt
wieder auf in der Hütte des Gerechten, und die Hilfe fällt ins Leben wie
ein Blitz in der Nacht, da wir ja mit Habakuk sagen müssen: „Du reitest
auf Rossen her, und deine Wagen behalten den Sieg.“ Und so kann er sein
in einem Augenblick bei Tausenden in den verschiedensten Winkeln, denn
er sitzt zu Roß. Und dieses Roß jagt schnell, Allgegenwart ist sein
Name. „Und das Pferd, auf dem der Mann saß, war rot,” sagt Sacharja. So
muß doch allerwege, wo der Herr erscheint, dem Teufel und den
Unbeschnittenen zum Trotz, auch etwas Gutes dabei sein. Ein rotes Roß,
angenehme Färbung! Weil es rot ist, darf’s ihn zu den armen Sündern
tragen, denn in seinem Blut sind sie angenehm. „Woher kommt denn der
Reiter?“ Ihr seht’s an seinem Pferd. „Aus dem Roten Meer?” Ja freilich,
direkt vom Krieg, vom Schädelberg und aus der Schlacht der Reisigen. Er
hat der Schlange den Kopf zertreten, hat im heißen Kampfgetümmel dem
Starken seinen Raub genommen, hat sich ein Volk erobert aus den Flammen
der Hölle und Tod und Teufel mit seinem Fall erschlagen. Seine Ferse hat
geblutet; darum ist sein Roß so rot und bedeckt mit Schweiß. O so
gefällt er uns wohl! Hosianna dem Reiter auf dem roten Roß!
Hören wir nun, was Sacharja weiter sagt. „Ich sah bei der Nacht, und
siehe, ein Mann saß auf einem roten Pferd, und er hielt,“ nun wo denn?
„Unter den Myrten.” Also in einem Hain, also unter grünen Bäumen. Das
sind die Pflanzen, die er gepflanzt; das sind die Bäume der
Gerechtigkeit, die an dem Boden seines Blutes, seiner Verdienste, seiner
unendlichen Gnade, seiner ewigen Macht und unveränderlichen Treue fest
gewurzelt stehen und in der Gnadenkraft seines Heiligen Geistes grünen.
Die Myrten sind die Kinder Gottes auf Erden, seine wahre Kirche. Ja,
Myrten sind sie, aus denen der König aller Könige sich den Ehrenkranz
windet um sein Haupt, wie er denn zu ihnen spricht: „Ihr seid meine
Krone und mein fürstlicher Hut in meiner Hand.“ Denn an ihnen erzeigt
sich offenbar zu seiner Ehre die Allmacht seiner Gnade, wie ein Licht
auf hohem Leuchter. Und wie man Myrtenzweige als Sinnbilder der Freude,
um zum Frohsinn zu ermuntern, bei den Gastmählern austeilte, so ist
Freude über diese geistlichen Myrten bei den Fest- und Hochzeitsmählern
im Himmel. Und wie bei hochzeitlichen Festen in Israel dem Bräutigam
grüne Myrten mit Gesang vorangetragen wurden, so freut sich der
himmlische Bräutigam über sein Myrtenwäldlein auf Erden und spricht: „Du
sollst genannt werden ,meine Lust an ihr’ und dein Land ,die Vermählte’;
denn der Herr hat Lust an dir, und dein Land wird vermählt werden.” Und
wo standen die Myrten, die Sacharja sah? In der Aue, das ist im tiefsten
Grund. Da wachsen sie am besten. Je tiefer der Grund, desto grüner das
Blatt, desto saftiger der Stamm, desto angenehmer der Duft. Das gilt
auch von den geistlichen Myrten. Sie stehen im Grund; auf der Höhe
würden sie welken. In Tälern wachsen sie, in Tälern ist ihr Gedeihen. In
den Tälern der Geistesarmut, der Armensünderschaft, der Kleinheit und
der Selbstvernichtigung, da wachsen die Myrten Gottes, da trifft man
seine Kirche an.
Unter diesen Myrten nun hielt der Reiter. O herzerhebender Anblick! Ja,
da hält er, wie er spricht: „Ich wohne bei den Elenden.“ Und er hält da
zu Roß, daß er den ganzen Wald übersehe, nicht die Bäume allein, die ihm
nahe sind, sondern auch, die noch ferne stehen. Er hält da zu Roß,
behelmt und bepanzert, auf Überfälle bereit und geschmückt zum Streit
für sein Juda. „Ja,” ruft Zephanja, „der Herr dein Gott ist mitten unter
dir; der Held, welcher Heil schaffen wird, hat Freude an dir.“ Und
siehe, dahinter ein bunt Geschwader, rote, braune, weiße Pferde. Wer
sind die? „Sind das die Mahanaim, die starken Helden, ausgesandt zum
Dienst um dererwillen, die ererben sollen die Seligkeit? Sind das die
Vollkommenheiten Gottes, die zu unsern Diensten stehen, seine Gnade,
seine Treue, seine Barmherzigkeit und seine Allmacht? Sind das seine
starken Verheißungen, auf welchen wir, wie auf Rossen, durch rote Meere
reiten und über himmelhohe Berge fliegen und über die tiefsten
Schluchten sprengen und ohne Furcht durch düstere Nächte jagen?” Ja,
dieses alles miteinander magst du sehen in den roten, braunen und weißen
Rossen. Wo der himmlische Reiter ist, da ist auch dieses Geschwader um
ihn, und wo er hineinsprengt in ein Herz oder ein Haus, da sprengt eine
ganze Schar der angenehmsten Gäste hinter ihm her, und Haus und Herz
wird nie zu eng.
Da habt ihr das Gesicht, wie es Sacharja zu seinem Trost über Jerusalem
sah bei der Nacht. Brüder, das Gesicht ist Wahrheit. Ja, so hält er
unter uns. Ein Mann auf rotem Pferd, unter den Myrten in der Tiefe, und
hinter ihm rote, braune und weiße Pferde. Gedenkt denn an diesen Reiter
Gottes, wenn ihr des Nachts auf eurem Bett liegt und die Sorge ihre
schweren Flügel über euch breitet und der Satan seine Pfeile sendet;
gedenkt an ihn am Tag, so oft es in eurem Leben dunkelt und dunkelt in
eurer Seele! Und wenn ihr nichts mehr schaut und nichts mehr schmeckt,
so reißt die Glaubensaugen auf und seht, wie Sacharja sah, da er sprach:
„Ich sah bei der Nacht, und siehe,“ und seid getrost! Ich bin’s gewiß,
in diesen Tagen, da viele seiner Kinder unter uns betrübt und voll Sorge
sind, wird er sich auch nicht still halten. Er wird sein Roß schon
tummeln unter uns und wie der Blitz seine Hilfe an manchem Ort
erscheinen lassen. Nur Mut, nur Mut! Vielleicht vor Abend noch muß
mancher, der sich verlassen glaubt, beschämt mit Jakob schreien:
„Gewißlich war der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht.”
Vielleicht vor Abend noch gehen manchem Kummervollen, wie Elisas Knaben,
die Augen auf, daß auch er seinen Berg voll feuriger Rosse und Wagen
sieht und staunend mit dem Propheten rufen muß: „Mein Vater, mein Vater,
Wagen Israel und seine Reiter!“ Doch sollte es nicht also sein, geliebte
Brüder, und noch eine Zeitlang dunkel um uns bleiben müssen, dann
schenke es uns Gott in Gnaden, daß wir zum wenigsten mit Sacharja
schreien können zu jeder Zeit und jeder Stunde: „Ich sehe bei der Nacht,
und siehe, siehe!” Amen.
Abfall und Wiederbringung.
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Hebräer 3, 4-6: „Denn es ist unmöglich, die, so einmal erleuchtet sind
und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind
des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die
Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur
Buße, als die ihnen selbst den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für
Spott halten."
Bekannte und gewichtige Worte, meine Brüder, die wir heute betrachten
wollen! Aus welchem Grund so bekannt und inwiefern so gewichtig, wer
wüßte das nicht? Mancher unter euch wird recht gespannt sein, was es
denn heute wohl geben werde? Aber ihr irrt euch, meine Brüder, wenn ihr
denkt, darum habe ich mir diesen Text erwählt, um an ihm einmal meinen
Witz und meine Weisheit euch zur Schau zu stellen. Nein, das wäre wohl
heute sehr zur Unzeit und könnte mir übel vergolten werden. Auch denke
keiner, ich wollte ihm einen neuen Stoff zum Spekulieren mit nach Hause
geben oder sei gar gesonnen, der Streit- und Disputiersucht eine neue
Nahrung darzureichen und Öl zu gießen ins Feuer der Parteiungen. Das
erstere wäre in der Tat sehr überflüssig; denn es ist schon des Grübelns
genug vorhanden, daß hier und da schier das Leben darüber vergessen
wird; und des andern bedarf es eben auch nicht, da das Feuer der
Meinungskriege unter uns schon wacker brennt und unter der Asche nicht
mehr verborgen klimmen mag. Und wie würde ich auch bei solchem Anblasen
in der Wahrheit bestehen und im Einklang bleiben mit mir selbst und dem,
was ich vor 14 Tagen über den 133. Psalm euch vorgehalten? Nein, nein,
unsre Absicht ist eine andre. Weil diese Worte, wie Gottes Worte alle,
nütze sind zur Lehre, Strafe, Besserung und Züchtigung in der
Gerechtigkeit, und weil sie uns besonders passend schienen für einen
Tag, wie der heutige, da eine ganze Schar von Schuldbeladenen, ja von
abgewichenen und verirrten Söhnen und Töchtern beieinander steht und
sich des Bundesbruches schuldig weiß und ihren Bund mit Gott erneuern
möchte, darum wählten wir sie. Möchte sich’s erweisen, daß auch ein
andrer als wir sie für euch wählte! Drei Stücke sind es, die wir zu
betrachten haben:
1\. die Personen, von denen die Rede ist,\
2. der Abfall, dessen sie fähig sind, und\
3. die Warnung, die ihnen gegeben wird.
Die Personen, von denen die Rede ist.
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Was sind das für Leute, die der Apostel im Auge hat? Sind es Kinder
Gottes oder nicht? Eine wichtige Frage, die schon manchem den Kopf
erhitzt und das Herz geängstigt hat. Viele, wie ihr wißt, halten an der
Meinung, es sei hier nicht von Wiedergeborenen, sondern von sogenannten
Zeitgläubigen die Rede, von Menschen, mit denen es wohl je und dann zu
guten Rührungen, Eindrücken und Vorsätzen, nicht aber zu einem
wirklichen Umschlag und Durchbruch gekommen sei, die also durchaus noch
zu denen zu zählen wären, die draußen sind. Diese Meinung schwebt in der
Luft und ist offenbar aus der Besorgnis hervorgegangen, es möchte durch
unsre Textesstelle eine der heilvollsten und tröstlichsten Lehren
umgestoßen werden, die Lehre unsrer Kirche „von der freien Gnade und der
Unauflösbarkeit des Gnadenbundes". Diese Besorgnis habe nun Grund oder
nicht; in keinem Fall ist es recht und in der Wahrheit gehandelt, daß
man das Wort Gottes nach seinem System drehe und ihm Zwang antue. Das
heißt nicht, sich fürchten vor dem Wort. Das Wort sei Herr im Hause und
unser System der Untertänige; nicht umgekehrt. Paulus redet von Kindern
Gottes. Von Kindern Gottes? Und die könnten noch aus der Gnade fallen,
die noch auf dem Weg sterben — die noch am Ende verlorengehen? Nun
ruhig, ruhig, nicht vorgegriffen! Davon nachher; eins nach dem andern!
Zuerst will ich euch beweisen, daß Paulus von den Kindern Gottes redet.
Paulus zählt an den Leuten, die er vor sich hat, eine Menge Kennzeichen
auf, die sie durchaus als Wiedergeborene bezeichnen. Wir wollen diese
Kennzeichen etwas näher betrachten, und ihr, meine Brüder und
Tischgenossen, mögt unterdessen eine stille Selbstbetrachtung mit euch
anstellen, ob ihr diese Zeichen und Siegel des wahrhaften Israel auch an
euch findet. Das erste, was Paulus von seinen Leuten aussagt, ist, sie
seien erleuchtet. Es gibt verschiedene Arten von Erleuchtung in der
Natur: Erleuchtung durch den Schein des Mondes, Erleuchtung durch den
Strahl der Sonne, Erleuchtung durch Licht der Fackeln oder Lampen. So
auch in der menschlichen Gemütswelt. Da sind manche, die wissen
allerdings, was not ist und wie die Stationen heißen auf dem Himmelsweg;
aber sie wissen alles aus menschlicher Unterweisung und haben ihr Licht
aus der zweiten und dritten Hand. Das ist ein Mondlicht, das weder
erwärmt noch befruchtet, weder Totes lebendig, noch Verdorrtes grünend
macht. Solche Erleuchtung kann man freilich haben und doch von Gott und
seinem Reich so fern stehen wie der verfinstertste Heide. Da sind andre,
die scheinen schon einer besseren Erleuchtung teilhaftig; es ist Licht
da und auch eine gewisse Wärme. Es sind die weichen, gemütvollen und
leicht erregten Seelen, die, wenn sie von Christus und den Erfahrungen
seines Heils und seiner Gnade mit Innigkeit reden, rühmen und erzählen
hören, sich gewisser Rührungen und Gemütsbewegungen nicht erwehren
können, auch wohl unter solchen Umständen von dem Gedanken durchblitzt
werden, daß diese Sachen doch wohl wahr sein müßten, und vielleicht
sogar dem Evangelium die Ehre geben und so etwas von den Strömen
lebendigen Wassers schmecken, die von den Leibern der Gläubigen
ausgehen; aber das nur so lange, bis andre Umgebungen auch wieder andre
Eindrücke herbeiführen. Die sind beschienen und erleuchtet von den
Lampen der klugen Jungfrauen. Aber brennt diesen einmal der Docht und
das Öl ein wenig herunter, oder ziehen sie sich zurück mit ihren Lampen,
dann ist die alte Finsternis wieder da. Denn jene Leute haben das Licht
nicht empfangen in ihnen selber. Weder diese noch die vorhin Benannten
werden in der Schrift jemals Erleuchtete genannt. Den Titel „erleuchtet“
gibt die Schrift nur solchen, die ihr Licht nicht unmittelbar aus der
zweiten und dritten Hand, als vom Mond herab und durch Lampenschein,
empfingen, sondern die es nahmen unmittelbar aus der Sonne der
Gerechtigkeit selber, von der geschrieben steht: „Wach auf, der du
schläfst, steh auf von den Toten, daß Christus dich erleuchte!” Und das
ist ein Licht, das Mark und Bein durchdringt und hinunterleuchtet bis in
die verborgensten Winkel der Seele. Das ist ein Licht, das dem Sünder
sein Elend nicht allein aufdeckt, sondern auch zu fühlen gibt und einen
Saul auf dem Weg nach Damaskus in den Staub darniederblitzt. Das ist ein
Licht, durch das wir nicht bloß Lehre und Theorie empfangen, sondern das
uns gleich in die Praxis hineinleitet und uns die Zunge löst: „Was soll
ich tun, daß ich selig werde?“ Das ist ein Licht, das uns den Heiland
nicht allein erkenntlich, sondern auch begehrlich, süß und köstlich
macht zum Schreien: „O Davids Sohn, erbarme dich unser!” Alle nun,
welche die Bestrahlung dieses Lichts erfuhren, das da im Menschen das
Unterste zu oberst kehrt und eine Radikalreform zuwegebringt, das nicht
kalt ist, sondern heiß und brennend, befruchtend, Liebe und Leben
zeugend, die, aber auch nur die, heißen Erleuchtete in der Schrift. Wer
aber also erleuchtet ward, der ist ein Gottesmensch, vom Geist geboren;
das ist ohne Zweifel.
Was sagt der Apostel von seinen Leuten weiter? „Sie haben geschmeckt,“
spricht er, „die himmlische Gabe.” Wiederum ein ausschließliches
Abzeichen des wahrhaftigen Israel. Die Gabe vom Himmel ist keine andre
als diejenige, von welcher der Herr zur Samariterin spricht: „Daß du
erkenntest die Gabe Gottes!“ und Paulus zu den Korinthern: „Gott aber
sei Dank für seine unaussprechliche Gabe.” Die Gabe ist Christus selber.
Diese Gabe geschmeckt, nämlich genossen als ein Himmelsbrot, durch den
Glauben in sich ausgenommen und jemals mit der Lust eines begnadigten
Sünders sich ihrer getröstet zu haben, nein, nein, das wird kein
natürlicher Mensch von sich rühmen können. Ich will nicht sagen, ob man
nicht etwas von Christus schmecken und kosten, ob man nicht irgendeinen
köstlichen Ausspruch aus seinem Mund mit einem gewissen Wohlgefallen
vernehmen, ob nicht irgendeine schöne Tat von ihm uns angenehm bewegen,
ob die Holdseligkeit seines Bildes uns nicht in gewisser Weise ergötzen
und erfreuen könne, ohne daß man wiedergeboren ist und zu Gottes Kindern
gehört. Aber die ganze Gabe, Christus selber als das, was er ist, als
Versöhner und Sünderfreund, mit lebendiger Zuversicht in seinem Herzen
genießen, als Arznei wider den Tod, als Speise zum ewigen Leben, das
kann nur ein Kind, ein aus Gott Geborener, denn es setzt Bedürfnis
voraus, Hunger nach der Gerechtigkeit und vieles andre, das schon zu der
göttlichen Natur gehört.
Ein neues Kennzeichen: „Sie sind teilhaftig geworden des Heiligen
Geistes," und das läßt uns nun vollends keinen Augenblick mehr ungewiß,
von was für Leuten der Apostel rede. Merkt wohl, nicht sagt er, daß der
Geist einmal bei ihnen anklopft, daß sie einmal vom Odem Gottes seien
berührt worden! Teilhaftig, teilhaftig geworden des Heiligen Geistes
sind sie; der Geist des Herrn ist in ihnen, ermahnt, richtet, straft,
unterweist und tröstet sie; er seufzt in ihren Seufzern, er betet in
ihren Gebeten und stimmt an ihre Lobgesänge; er führt den Streit in
ihnen wider das Fleisch; er leitet sie zur Buße nach jeglichem Fall und
verklärt ihnen Christus und sein Verdienst in ihren Herzen. So sind sie
des Geistes teilhaftig geworden und getränkt und erfüllt mit dem neuen,
geistlichen Leben. Das meint Paulus. Wer zweifelt daran, daß er
wahrhaftige Gotteskinder im Auge habe?
Und damit wir gewiß wüßten, er rede von solchen, die den Geist Gottes
wirklich zum Unterpfand ihrer Seligkeit empfangen hatten, so setzt er
hinzu: „Sie haben geschmeckt das gütige Wort Gottes." Ein lieblicher
Ausdruck! Sie haben das Wort Gottes an sich erfahren als ein gütiges,
als ein Wort, das an allem, was uns begegnet oder drückt, den
freundlichsten und mitleidigsten Anteil nimmt, als ein Wort, das allzeit
für uns Rat und Ausweg weiß und auf das leutseligste mit seinem Licht
und seinem Balsam uns zur Seite geht. Und so erfahren das Wort Gottes
nur solche, die in wirkliche Gemeinschaft mit dem Tröster aus der Höhe
gekommen sind, der das Wort diktiert und eingegeben, der es seinen
Vertrauten auch auslegt und versiegelt, der es versteht, immer das für
die jedesmalige Lage Passende herauszuheben, und der die unbedeutendsten
Sprüchlein oder Geschichtchen in diesem Wort dazu anzuwenden weiß, um
uns zu erbauen, aufzurichten, zu erfreuen, zu trösten, zu warnen und uns
zuzureden. Selig, die da schmecken das gütige Wort Gottes! Die gehören
mit zum Hause.
Und nun das letzte Charakterzeichen: „Sie haben geschmeckt die Kräfte
der zukünftigen Welt.“ Darunter versteh nun, was du kannst! Denk dabei
an die Gnadenergüsse aus der Höhe zur Welt- und Todesüberwindung oder an
einen lebendigen Vorgeschmack der ewigen Wonnen und an entzückende
Vorgefühle der himmlischen Seligkeiten; denk an ein freudiges
Ergriffensein von den Dingen, die da kommen sollen, oder an ein
zuversichtlich frohes Vorausempfinden der majestätischen Wiederkehr des
Ehrenkönigs; gedenk an kräftige Versicherungen von dem einstigen
„Allezeit bei Christus sein” oder an ein siegreiches und mächtiges
Hinausgehobenwerden auf Glaubensflügeln über Zeit, Kreuz, Grab und Tod,
Gericht und Hölle, oder was du immer unter jenen Worten verstehen magst:
das wirst du zugeben müssen, nur Kinder Gottes könne Paulus vor Augen
haben, wenn er von ihnen aussagt: „Sie haben geschmeckt die Kräfte der
zukünftigen Zeit und Welt."
Wollte Gott, o wollte Gott nur, meine Brüder, daß ihr dieselben
Merkzeichen auch an euch befunden hättet! Wir trügen keinen Augenblick
mehr Bedenken, wie Bileam einst, auf einen Berg zu steigen und über euch
zu jauchzen: „O wie fein sind deine Hütten, Jakob, und deine Wohnungen,
Israel! Wie sich die Bäche ausbreiten, wie die Gärten an den Wassern,
wie die Aloebäume, die Gott gepflanzt hat. O Volk, du bist vom Herrn
erwählt!"
Der Abfall, dessen sie fähig sind.
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Paulus spricht von Kindern Gottes, und zwar nicht von Neulingen, sondern
gar von solchen, die schon Erfahrungen gemacht haben im Weg des Heils,
und mit denen es zum Durchbruch schon gekommen ist. Nun sagt er weiter:
„Wo die nun abfallen.“ Abfallen? Ja, ja, meine Brüder, das sagt er und
nichts andres. Wem sollte hier nicht grauen? Hier öffnet sich nun der
Abgrund, der uns die teuersten Glaubenssätze, den von der freien,
unverdienten Gnade und die andern von unsrer ewigen Bewahrung in Gottes
Händen und mit ihnen unsern seligsten Trost, ja unsre ganze Ruhe zu
verschlingen droht. Denn in Wahrheit, der Gedanke, daß man sich selbst
zu bewahren habe, ist des Friedens Grab und eine Quelle ewiger Ängste.
Aber heißt es denn wirklich abfallen? Läßt sich das Wort nicht anders
geben? Nein, liebe Brüder, durchaus nicht anders! Und auch das ändert
die Sache nicht, daß Paulus, statt die Möglichkeit des Abfallens
ausdrücklich zu behaupten, nur sagt: „wenn sie abfallen.” Da meinen
manche, Paulus habe da heimlich in seinem Herzen gedacht: „Was nun und
nimmermehr geschehen kann!" Aber das ist nichts. Genug, es wird
behauptet, der Abfall der Kinder Gottes sei möglich. So leicht geschieht
es freilich nicht, daß sie abfallen; aber geschehen kann es.
Genau genommen ist jeder Fall ein Abfall, ein Vergessen Christi und ein
Hinwegtreten von seiner Seite und von seinem Weg. Aber zwischen Fall und
Abfall macht doch die Schrift einen Unterschied. Von dem Fallen und
Straucheln aus Schwachheit, von welchem Salomo in seinen Sprüchen sagt:
„Der Gerechte fällt siebenmal des Tages und steht wieder auf," von
diesen Fällen, die oft nützlicher sind und mehr eintragen als unsre
Tugenden, spricht der Apostel nicht. Diese Fallenden richte niemand; sie
werden schon genug vom Geist gerichtet. Sie stehen und fallen ihrem
Herrn, und Gott kann sie wohl aufrichten. Doch vom Fallen handelt sich’s
nicht, vom Abfallen ist die Rede, und was das heiße, muß näher erörtet
werden.
Galater 5, 4 treffen wir mit Abgefallenen zusammen. Wir wollen sie näher
ins Auge fassen. Es sind Leute, die der Apostel wirklich als Erweckte
und Bekehrte charakterisiert. Nun heißt es zu ihnen: „Ihr habt Christus
verloren und seid von der Gnade gefallen.“ „Von der Gnade,” wird gesagt,
„aber nicht aus der Gnade.“ Aus der Gnade fallen, diese Redensart habe
ich, beiläufig bemerkt, in der Schrift noch nicht gefunden. Worin
bestand denn nun der Abfall dieser Galater? Darin, meine Brüder, daß sie
aus dem evangelischen Stand in den gesetzlichen, aus einem empfangenden
in einen erwerbenden, aus dem Armensünderwesen in ein eitles Eigenwirken
und Sichselberhelfenwollen hineingeraten waren. Sie hatten das lebendige
Gefühl ihrer Untüchtigkeit und ihres Unvermögens verloren, waren,
anstatt fein unterm Kreuz zu bleiben und von Gnade und Vergebung zu
leben, auf den unglückseligen Gedanken gekommen, ihre eigenen Heilande
und Vertreter zu werden, und anstatt daß sie ihre Sünden hätten richten
und verdammen und dann, vor dem Gnadenstuhl sich beugend, ihre Kleider
im Blut des Lammes wieder hell machen sollen, waren sie darauf aus, ihre
Gebrechen selbst zu heilen und durch Gesetzeswerke ihre eigene
Gerechtigkeit aufzurichten und sich eine persönliche, selbsterworbene
Würdigkeit zu verschaffen, daß Paulus ihnen zurufen mußte: „Ihr lieft so
fein; wer hat euch aufgehalten, der Wahrheit nicht mehr zu gehorchen?”
Das war ein Abfall, das war ein Hinwegtreten von der Gnade, das war eine
Verirrung vom Weg der Kinder Gottes auf den der selbstgerechten
Naturmenschen; das war ein Sichlossagen von Christus, das war eine
stillschweigende Erklärung: Wir bedürfen seiner nicht; wir können ihn
entbehren. Das war eine Geringschätzung seines Blutes, eine Verachtung
seines Opfers, eine Wegwerfung seiner Person, daß Paulus mit Fug und
Recht ihnen vorwerfen konnte: Christus sei wieder unter ihnen
gekreuzigt; ja, daß er ihnen auch mit den Worten unsers Textes hätte
zurufen können: „Ihr habt den Sohn Gottes für Spott gehalten." Seht
also, meine Brüder, ein Abfall wahrer Christen, und zumal ein solcher,
der leider nicht zu den seltensten Erscheinungen gehört im Reich Gottes.
Aber es gibt einen Abfall, noch schrecklicher denn dieser. Nicht ein
Abfall bloß von der Gnade ins Gesetz, ein Abfall in die Gesetzlosigkeit,
ein Abfall von Gott zu den Götzen, vom Himmelreich zur Welt und vom Weg
des Lichtes in den des Fleisches und der Finsternis. Es ist kaum zu
glauben, und doch bestätigt es die Erfahrung. Seht David an in einer
gewissen Periode seines Lebens! Doch nein, Davids Irrgang meine ich
nicht; der war mehr Fall als Abfall. Aber gedenkt an Salomo, diesen
teuren Gottesmann, und begleitet ihn auf seinem Lebensweg; ein Schauder
wird euch ankommen! O seht, seht; der inbrünstige Sänger des Hohenlieds,
der Meister in Sprüchen der Weisheit, der Mann voll Glaubens und Eifers,
wo ist er hingeraten? Siebenhundert Königinnen umgeben ihn, und
dreihundert Kebsweiber halten ihn in Stricken. Sein Herz wird fremden
Göttern zugeneigt, und er wandelt Astaroth, der Gottheit Sidons, nach,
dem Greuel der Amoriter. Er tut, was dem Herrn übel gefällt, und baut
Höhen, Götzentempel und Altäre dem Moloch und dem Greuel der Moabiter
und gibt sich mit den Weibern ans Räuchern und ans Opfern. Zweimal
erscheint ihm der Herr und gebietet ihm, daß er nicht andern Göttern
nachwandeln soll; aber er hält es nicht und bleibt am Weichen vom Herrn,
dem Gott Israels, daß der Herr endlich mit den Donnern und Blitzen
seiner Gerichte wider ihn anrücken muß. Und ach, wie so manchem
Gotteskind ist es schon ergangen wie Salomo! Wie so mancher, dem die
Welt schon gekreuzigt war, ist in die Welt wieder zurückgetreten! Wie so
mancher, der schon lange, lange Zeit dem Herrn gedient, hat die Wüste
seines Sündenlebens, die er längst verlassen, wieder aufgesucht, um
wieder Treber zu essen mit den Säuen! Ach, vielleicht wandeln auch unter
uns solche Unglückselige, die einst es mit dem Herrn gehalten, und
siehe, nun ist der Bund gebrochen und geschändet; die einst mit unterm
Kreuz standen, und siehe, nun kreuzigen sie den Sohn Gottes selber und
halten ihn für Spott und treten sein Blut mit Füßen; die einst in der
Reihe der Simone und Schächer und Magdalenen zu sehen waren, und nun
träuft keine Träne um ihre Sünde mehr aus ihren Augen, und ihr Herz ist
wie Stahl und Eisen. Die einst mit das Lied des Lammes sangen, wissen
nun nichts mehr von Lamm und Lammesblut, sondern singen das Lied der
Welt und Belials. Die einst liebliche Pflanzen waren zum Preise Gottes,
sind nun wie die entlaubten Bäume im Wald, verdorrt und kahl, ohne
Blüte, Blatt und Frucht und ohne Saft in Zweigen und Ästen, und es Hilft
kein Verpflanzen mehr noch Begießen. Ach, vielleicht hat auch unsre
Gemeinde solcher etliche auszuweisen, daß wir nicht brauchen in die
Weite und Ferne zu greifen, daß wir in der Nähe bleiben können! Ist es
also? Nun so weisen wir hin auf diesen und auf jenen unter euch. Seht,
seht; an diesen Menschen ist es zu erkennen: Abfall sei möglich.
Die Warnung, die ihnen gegeben wird.
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Nun denn, ihr Abgefallenen, hört, hört! Ein Donner geht vom Mund des
Apostels. „Es ist unmöglich,“ spricht er, „daß die, so einmal erleuchtet
sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden
sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes
und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen und dadurch wieder
ihnen selbst den Sohn Gottes kreuzigen und für Spott halten, daß sie
sollten wiederum erneuert werden zur Buße.” Ach, wie klingt das
furchtbar und erschrecklich! Das klingt beinahe wie: „Geht hin von mir,
ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln
bereitet ist!“ Aber das läßt sich von selbst schon denken, wie schwer
die Wiederbringung solcher sein müsse, die schon ins geistliche Leben
eingewurzelt und mit den süßesten Liebeserfahrungen vom Herrn beseligt
waren, und mit denen es dennoch zum Rückfall kommen konnte. Darum, wer
des Abfalles sich schuldig weiß, der zittre und erbebe; er hat Ursache
dazu. Das Wort „unmöglich” in unserm Text fülle ihn mit Grausen und
Schauder! Wer da steht, der sehe zu, daß er nicht falle! Wachet und
betet, und unter dem Kreuz sei eure bleibende Stätte! Da legt euch
schlafen, da steht auf am Morgen; da treibt eure Geschäfte; da beschickt
eure ewigen Angelegenheiten; da leibt und lebt; da wartet auf den
Bräutigam; da sterbt; so seid ihr sicher!
Es ist Spannung unter euch, meine Brüder, und in manchen Herzen ein
heimliches Bangen, Weinen und Schluchzen. Ich glaube mich nicht zu
irren. Was gibt es denn? Ach, ich merke es wohl; es sind etliche unter
uns, die sich des Abfalls schuldig glauben, und denen sich das
„Unmöglich“ wie ein Berg auf die Seele gelagert hat. Ach, meine Brüder,
wir beklagen euch. Aber seid ihr denn auch wirklich abgefallen? Ja,
denkt ihr, ja, wir sind es wirklich. Und ist euch auch bange darum? Ach,
seufzt ihr, ach, so bange, so bange! Und möchtet auch wohl gern wieder
zurückkehren? Ach, sprecht ihr, ja, wie gern, wie gern! Aber es ist aus
mit uns, wir sind verloren, wir Ungetreue, wir arge Sünder, die wir den
Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben. Wie sollte er uns wieder
annehmen? Es ist ja unmöglich, ach, unmöglich! So seufzt eure Seele. Nun
gut, wir wissen jetzt genug und rufen euch zu: Seid fröhlich und
unverzagt! Ihr zittert ohne Grund. Für euch liegt nichts als Trost in
unserm Text. Trost? Ja, Trost! Denn hört doch nur, was der Apostel sagt!
Er sagt, es sei unmöglich, daß die, so abfielen, könnten zur Buße
erneuert werden. Ihr aber, dünkt mich, seid erneuert zur Buße; denn dies
euer Bangen und Beben, dies euer Seufzen und Zagen, dies euer Weinen und
euch selber richten vor dem Herrn, was ist es anders als Buße und
Zerknirschung? Mithin braucht ihr euch zu den Abgefallenen nicht zu
zählen. Seht ihr diesen Schluß und seine Wahrheit ein? Getrost! Im Namen
Gottes und seines Wortes: „Ihr seid in Gnaden!”
Nicht wahr, ihr lieben, allzu besorgten Seelen, seid beruhigt? Aber
beruhigt sind noch nicht alle Herzen in unsrer Mitte. Ach, nicht wahr,
noch manchem liegt das Wort „unmöglich“ wie eine Zentnerlast auf der
Seele, vielleicht weniger um sein selbst als um andrer Willen? Hier
denkt ein Vater an seinen abgefallenen Sohn, dort ein Bruder an den
schwer verirrten Bruder und da ein Freund an seinen abgewichenen Freund,
und ach, bei dem Worte „unmöglich” wird ihnen zumute, als sähen sie
soeben in die offene Hölle hinein, und Bruder, Sohn und Freund den
ewigen Flammen rettungslos preisgegeben. Womit beruhigen wir nun diese,
und was sagen wir denen, welchen wir nun das angenehme Gefühl und
Bewußtsein ihrer Sicherheit geraubt oder doch erschüttert haben? Diesen
sagen wir: So tut desto mehr Fleiß mit Wachen und Beten! Und jenen sagen
wir: So jene Lieben, deren Abfall ihr beweint, Kinder Gottes waren, so
werden sie wohl wiederkommen; und ob auch deine und meine Augen nichts
davon merken, und ob sie’s auch selber kaum gewahr werden, der Geist ist
nicht von ihnen genommen; denn von ihm ist uns verheißen: „Er bleibt bei
euch.“ Das Wort Gottes kann nicht mit sich selber uneins sein, und die
ganze Bibel braucht sich vor der halben nicht zu fürchten. Was Christus
sagt bei Johannes: „Meine Schafe werden nimmermehr umkommen, und niemand
wird sie aus meiner Hand reißen; mein Vater, der sie mir gegeben hat,
ist größer denn alles, und niemand kann sie aus meines Vaters Hand
reißen,” was er sagte zu Kapernaum: „Alles, was mir mein Vater gibt, das
kommt zu mir; das ist aber der Wille des Vaters, der mich gesandt hat,
daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern daß
ich es auferwecke am Jüngsten Tage," das steht noch fest. Und was der
Heilige Geist in unserm Text sagt, das läuft dem nicht zuwider. Das muß
ich euch in der Kürze beweisen.
Vergleichen wir unsern Ausspruch zunächst mit dem Grundtext, so finden
wir, daß er in einem einzigen Punkt nur noch etwas buchstäblicher könnte
übersetzt werden. Statt daß wir lesen: „Es ist unmöglich, daß sie
sollten wieder erneuert werden,“ sollte es nach dem Grundtext heißen:
„Es ist unmöglich, sie wiederum zu erneuern zur Buße.” Den Unterschied
zwischen diesen beiden Redensarten werdet ihr fühlen. Ein Arzt kann von
einem gefährlichen Kranken sagen: „Es ist unmöglich, ihm zu helfen.“
Damit drückt er aus, daß seine Kunst hier zu Ende sei. Wollte er sagen:
„Es ist unmöglich, daß diesem Menschen geholfen werden kann,” so würde
er zu viel sagen; die Allmacht Gottes könnte wider alles Vermuten doch
noch eine Hilfe bereiten. So hütet sich denn auch der Apostel wohl, zu
behaupten, es sei unmöglich, daß die Abgefallenen wieder zur Buße
erneuert werden könnten, sondern er spricht nur, es sei unmöglich, sie
zur Buße zu erneuern. Damit will er sagen, die Mittel, die sonst von so
großen Erfolgen und Wirkungen begleitet werden, Ermahnung der Liebe,
Warnung, Predigt des Wortes, wodurch andre Kinder Gottes so leicht
wieder aufgeweckt und erfrischt werden, die blieben an diesen
Abgefallenen fruchtlos. Und Zuruf des Ernstes wie Vorstellung der
Freundlichkeit, Verheißung wie Drohung fallen auf diese Seelen wie Tau
auf ein plattgetretenes Land und wie Regen auf harte Steine. Wenn Paulus
also hier von Unmöglichkeit spricht, so müssen wir wohl bedenken, daß er
davon spricht im Blick auf die gewöhnlichen Erweckungsmittel „Wort und
Vermahnung“, die er als Diener Gottes handhabe; daß er aber keineswegs
damit sagen will, auch Gott sei es nicht möglich, diese Abgewichenen
wieder zurechtzubringen. Nein, das Wort „unmöglich” ist hier gerade so
zu verstehen wie Markus 10. Da spricht der Herr: „Es ist leichter, daß
ein Kamel durchs Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Himmelreich
komme.“ Da aber die Jünger sich entsetzten, da antwortete er: „Bei
Menschen ist es unmöglich, aber nicht bei Gott; denn bei Gott sind alle
Dinge möglich.” Aber warum setzte nicht auch Paulus das ausdrücklich
hinzu? Er wollte warnen vor Sicherheit und Abfall, und darum mußte er
stark sprechen. Daß übrigens kein liebes Gotteskind unnötigerweise durch
seinen Ausspruch beunruhigt werde, dafür hat er auch gesorgt. Versteckt
sagt er’s in unserm Kapitel mehrere Male, daß es Gott nicht unmöglich
sei, seine abgefallenen Kinder wieder zur Buße zu erneuern.
Zuerst tut er das im dritten Vers. Von den Leuten, zu denen er redet,
mußte er befürchten, sie eben seien Abgefallene, und gibt denen auch
geradezu zu verstehen: er besorge, daß die Predigt von den großen
Geheimnissen der Gottseligkeit, die er ihnen halten wolle, an ihnen
fruchtlos bleiben und wie auf ein verschlossenes Erdreich fallen werde.
Dennoch aber, sagt er, wolle er ihnen predigen: Wir wollen’s tun, so es
anders Gott zuläßt oder möglich macht. Was denn „möglich macht und
zuläßt“? Du weißt ja, Paulus, daß ihre Herzen verbaut sind. Du hast ja
selber gesagt, sie bedürften wieder Milch und müßten von vorn anfangen.
Ja, freilich; aber Paulus meint, wenn er es auch nicht könne, Gott könne
doch wohl schaffen, daß die abtrünnigen und verschlossenen Seelen wieder
herumgebracht, aufs neue gebrochen und aufgeschlossen würden. Diesen
seinen Glauben spricht er, zwar versteckt, aber doch deutlich genug aus
in den Worten: „wenn anders es Gott zuläßt.”
Aber im achten Verse, sagt er da nicht offenbar: die einmal Abgefallenen
seien unbedingt verloren? Da vergleicht er sie mit einer Erde, die trotz
des Segens, der über sie komme, nur Dornen und Disteln trage. Und was
sagt er von dieser Erde? „Sie ist untüchtig,“ spricht er, „und dem Fluch
nahe, welche man zuletzt verbrennt.” Das sind freilich starke Ausdrücke.
Aber dem Fluch nahe sein, heißt noch nicht, wirklich verflucht werden,
sowie zwischen wirklichem Sterben und dem Sterben nahe sein noch eine
außerordentliche Kluft befestigt ist. Die Worte: „welche man zuletzt
verbrennt" sind wirklich schrecklich und bleiben’s auch; aber so
schrecklich sind sie auch wieder nicht, wie es scheint. Es wäre etwas
andres, wenn die Abgefallenen hier mit einem dürren Holz verglichen
würden, das man zuletzt ins Feuer wirft. Aber sie sind verglichen einer
Erde. Warum aber pflegte man im Morgenland unfruchtbare Äcker in Brand
zu stecken? Um sie völlig zu zerstören, zu verwüsten? Ei bewahre, im
Gegenteil, um das Erdreich zu reinigen und wieder ur- und fruchtbar zu
machen. Wie solchen Äckern also, wie der Apostel sagt, ergeht es zuletzt
den abgefallenen Gotteskindern. Sie werden wieder zur Buße erneuert wie
durchs Feuer, mit der Brandfackel schwerer Gerichte, fürchterlicher
Heimsuchungen, die den Zornesflammen und den Höllenqualen ähnlich sind,
wie David, wie Salomo und andre, viele andre. Ja, bei Gott ist kein Ding
unmöglich.
Seid ihr nun noch nicht beruhigt, meine Brüder? Ist es euch noch
zweifelhaft, ob der geschlossene Gnadenbund auf seiten Gottes ewig und
unter allen Umständen unauflöslich feststehe, so lest nun das ganze
Textkapitel herunter! Da hält uns der Apostel eine Predigt von Gottes
Treue, die Herz und Seele jauchzend macht. Da ist es, als wollte er, was
er etwa durch den Donner seiner ersten Warnung zu Boden geschmettert,
jetzt wieder mit seinen Händen in den Himmel erheben. „Nein,“ sagt er
da, „Gott kann nicht lügen noch sein Wort zurücknehmen.” Habe er uns
einmal durch seinen Geist seine Gnade zugeschworen, habe er einmal uns
armen Schächern sein Paradies wirklich verheißen: dann hätten wir einen
starken Trost. Diese zwei Stücke, sein Eid und sein einmal gegebenes
Wort, die könnten nicht wanken; daran hätten wir allzeit einen sichern
und festen Anker der Seele, der auch hineingehe in das Innere des
Vorhangs. Seht, so denkt der Apostel über diese großen Sachen!
Für wen nun diese Predigt? Für die Leichten und Sichern zuerst und dann
für die Kleingläubigen und Verzagten. Für jene zur Warnung, daß sie
wachen und beten sollen und fein unterm Kreuz verbleiben, damit sie
nicht, ehe sie es meinen, in die Irre und Wirre geraten; denn es ist
schrecklich und tut sehr weh, zuletzt wie ein Acker in Brand gesteckt
und dadurch zur Buße erneuert zu werden. Für diese zur Stärkung, daß sie
getrost und guten Mutes seien trotz ihrer Untreue und ihres Abweichens;
denn der feste Bund und Grund Gottes besteht und hat dieses Siegel: „Der
Herr kennt die Seinen." Ja, er kennt euch. Kommt nur, Tischgenossen
Gottes, wie zerlumpt und zerrissen, wie bestaubt von der langen Irrfahrt
und wie unkenntlich ihr euch vorkommen mögt! Sobald er euch sehen wird
an seiner Bundestafel, wird’s ihm schon wieder einfallen, daß er einmal
mit euch zu tun gehabt, und wäre es auch vor Monden oder Jahren gewesen,
und er wird euch als seine alten Freunde herzlich willkommen heißen und
wird es euch selber sagen, daß ihr nichts zu fürchten habt, daß er euch
liebhabe, herzlich lieb, wie vor, so nach. O ein treuer Herr, nicht
wahr? Diese Treue breche euch das Herz, und so gebrochen kommt! Er
brennt vor Eifer, euch zu umarmen, zu erquicken.
So kommt, wer weinend kommen kann;\
Kommt: Er nimmt alle Sünder an!
Amen.
Satanstiefen.
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Matthäus 4,1—11: „Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß
er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig
Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und
sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden.
Und er antwortete und sprach: Es steht geschrieben: Der Mensch lebt
nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den
Mund Gottes geht. Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt
und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du
Gottes Sohn, so laß dich hinab; denn es steht geschrieben: ,Er wird
seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen
tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Da sprach
Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst Gott, deinen
Herrn, nicht versuchen. Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf
einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeit und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, so du
niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Heb dich weg von
mir, Satan! denn es steht geschrieben: „Du sollst anbeten Gott, deinen
Herrn, und ihm allein dienen. Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da
traten die Engel zu ihm und dienten ihm."
Wir befinden uns auf einem jener denkwürdigen Schlachtfelder, die
Lorbeeren errungen werden, die heute um unsre Schläfe grünen, und die
Triumphe erfochten, die uns in Christus Jesus zu Siegern machen vor dem
Kampf, zu Überwindern auch im Unterliegen. Nie ist ein Streit geführt,
der wunderbarer in seiner Art, heilvoller im Erfolg gewesen wäre als
dieser Streit, der uns so nahe angeht und in unser heiligstes Interesse
so eng verflochten ist. Er ist es wert, daß wir eine Weile niedersitzen
und, ganz Auge, in seinen Hergang uns vertiefen.
Die Führung in die Wüste.
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Zugleich mit der Weihe und Salbung zum Mittleramt des Neuen Bundes
durchs Wasser des Jordans und durch die Feuertaufe des Geistes ohne Maß
hatte Jesus vom Himmel herab ein vernehmbar göttlich Zeugnis überkommen,
daß er der einige Sohn des Vaters sei, an dem der Vater Wohlgefallen
habe. Die Sohnschaft unsers Herrn und seine wesentliche Einheit mit dem
Vater scheint in den Tagen seines Fleisches für ihn selber mehr ein
Gegenstand des Glaubens als des Schauens, Schmeckens und Fühlens gewesen
zu sein. Auf Augenblicke wenigstens konnte sich seine Gottheit vor
seinen Augen dergestalt verdunkeln und ruhend in den Hintergrund
verbergen, daß er sie nur noch besaß im nackten Glauben ans nackte Wort
des Vaters. Nicht für die Jünger bloß, auch seinethalben rief der Vater
je und dann vom Himmel: „Das ist mein lieber Sohn!", um ihm den Glauben
an sich selbst zu stärken, der, wie gesagt, zuweilen, z.B. in der Stunde
der Verlassenheit am Kreuz, nicht anders als ein nackter, von jeder
seligen Empfindung entblößter Glaube war.
Geweiht und göttlich ausgerüstet zu seinem Priesteramt eilt Jesus jetzt
ins Innere der Wüste. Der Führer, der ihn treibt und leitet, ist nach
dem Evangelium der Heilige Geist. War sich’s der Herr bewußt, aus
welchem Grund der Geist ihn in die Wüste führte? Vielleicht teilweise
nur und im allgemeinen, das einzelne und besondere mochte ihm der Vater
verborgen gehalten haben. Auch wir machen die Erfahrung, daß es dem
Heiligen Geist nicht immer gefällt, im voraus schon die Gründe uns zu
verraten, aus denen er uns hierhin oder dorthin treibt. Nicht selten
läßt er uns ganz im Dunkeln gehen. Wir vernehmen innerlich seinen Ruf:
„Mach dich auf; geh dahin oder dorthin, an jenen Ort, in dieses Haus, zu
diesem Bruder, in jenes Verhältnis, oder wohin es sein mag!“ Wir fragen:
„Warum? Was soll ich da?”, aber es kommt keine Antwort. Es heißt nur
lauter noch und dringender in unserm Herzen: „Geh, eile, zaudere nicht!“
Wir forschen aufs neue, was dieser innere Zug und Trieb doch zu bedeuten
habe, aber es bleibt uns Geheimnis; wir müssen fort im Dunkeln. Und
wollen wir Umstände machen, gleich ist das Gewissen in Aufruhr und ein
bitterer Geschmack des göttlichen Unwillens in der Seele. Wir müssen
fort, wir müssen, und hinterher erst entdeckt sich das „Warum”. Da
findet hier Philippus einen Kämmerer, der auf seine Unterweisung harrte,
und dort Elia eine Witwe, bei deren völliger Neugeburt er die
geistlichen Hebammendienste versehen sollte. Da ruft uns hier ein
trostloser Bruder schon von weitem entgegen: „Ach sieh, wie ein Engel
kommst du mir, von Gott gesandt.“ Und dort enthüllt sich’s wieder in
einer andern Weise, warum der Geist uns so gerufen und getrieben habe.
Und erst, nachdem wir ihn gegangen sind, geht über unserm Weg die Sonne
auf, und es ist alles hell und klar geworden. Ein andermal beliebt es
dem Geist, ihn etwa und teilweise wenigstens uns kund zu tun, warum er
diesen oder jenen Weg uns führe; aber das übrige, ja das Wichtigste, das
uns begegnen soll, behält er für sich und läßt’s vor unsern Augen
verborgen sein. Da spricht man wohl: „Ich muß in meine Kammer, um zu
beten, in dieses Haus, um zu helfen, in jenes Amt, um zu nützen;” aber
was wir in diesem Amt, in diesem Haus, in dieser Kammer mehr noch sollen
als nützen, helfen, beten, daß wir hier sollen mit Gott ringen, dort
zerbrochen und zermalmt werden, daß hier uns die Flamme des Läuterofens
ergreifen, dort die Mahanaim uns begegnen würden, oder was es denn sein
mag, davon war uns kein Wörtlein gesagt; das sollte uns aus guten
Gründen erst hinterher, im Weg der Erfahrung, kund und offenbar werden.
Es scheint, daß es nach letztgenannter Weise auch unserm Heiland
ergangen sei. Er ging in die Wüste halb im Licht, halb im Dunkeln.
Vielleicht wußte er nur im allgemeinen: „Ich soll fasten, darben und
entbehren und in den Tiefen der äußersten Erniedrigung und Armut mein
Priesterwerk beginnen." So viel entdeckte ihm der Geist; die schwere,
schreckliche Versuchung aber, die ihm bevorstand, war nach dem Ratschluß
seines Vaters vor seinen Augen mit Fleiß verborgen. Das Unvorhergesehene
des Anfalls sollte den Kampf ihm erschweren, daß der Triumph um so viel
glänzender und größer werde.
Das Fasten.
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Jesus ging in die Wüste, um zu fasten. Soweit reicht sein Licht für
diese Zeit, auch weiter noch, bis in die große Absicht, bis in die
geheimnisvolle Bedeutung dieses Fastens. Lag denn das Fasten Jesu nicht
in dem eigentlichen Plan dessen, der ihn in die Wüste führte?
Allerdings; daß er fasten sollte, war Absicht Gottes, doch nur ein Teil
derselben. Fragt ihr nun, aus welchem Grund Jesus habe fasten müssen und
warum in solcher schauerlichen Einsamkeit und weshalb so hart, so lange,
40 Tage und 40 Nächte, so wißt zuvörderst, daß es mit dem Fasten Jesu
eine ganz andre Bewandtnis hatte als z. B. mit dem Fasten eines Mose auf
Sinai und andrer Heiligen. Das Fasten unsers Herrn war mehr als
andächtige Übung und Bereitung aufs Amt und Priestertum; es war schon
Opferwerk und priesterliches Beginnen. Den Schlüssel nicht allein zur
Versuchung, sondern auch zum Fasten unsers Herrn finden wir hinter den
verriegelten Pforten des verlorenen Paradieses. Es ist Buße für Adams
Lust, Bezahlung seiner Schuld, genugtuende Passion. Wohnte unser
Stammvater in den Lustgefilden des Paradieses, so begegnet uns der andre
Adam in öder, grausenhafter Wildnis. Lebte Adam, der Mensch von Erde,
zwischen den köstlichsten Bäumen und süßesten Früchten im Garten Eden,
so muß der Mensch vom Himmel hungernd in einer Wüste verschlossen sein,
wo nur Steine und unfruchtbare Gestrüppe ihn umgeben, wo nicht einmal
eine Kornähre denn Bedürfnis seiner Natur entgegenwächst. Befand sich
unser Urvater in der angenehmsten Gesellschaft, Gottes, der heiligen
Engel und seines unbefleckten, reinen Weibes, so ist Jesus dafür in die
traurigste Einöde gebannt, unter den Tieren wohnend, wie Lukas sagt, und
umgeben von der alten Schlange, dem Satan und seinen Engeln.
Entsetzlicher Abstand! Aber so richtet Gott. Der fastende und darbende
Bürge und Stellvertreter in der verlassenen, unwirtbaren Wüste büßt an
des Sünders Statt den unverzeihlichen und überaus sündigen Übermut, mit
welchem Adam trotz der ausdrücklichen, göttlichen Warnung und Drohung
nach der Frucht des verbotenen Baumes die Hand ausstreckte. Jesus büßt
ihn für uns, sein Volk, büßt ihn für seine Auserwählten. Wir haben
nichts mehr zu büßen, in alle Ewigkeit nicht mehr. Ihr aber, denen die
ewige Genugtuung des Lammes nicht zugute kommt, ihr seht in jenen
Umständen, unter denen sich Jesus in der Wüste befindet, nur ein
getreues Abbild eures eigenen zukünftigen Schicksals. So werdet ihr für
immer in den ewigen Wüsten Hausen müssen, und wenn euch hungern wird,
wird man euch Steine in den Mund schieben statt Brot, und wenn euch
dürsten wird, werdet ihr Flammen statt Wasser verschlingen müssen und
werdet wohnen wie unter reißenden Tieren, schmutzigen Hunden, brüllenden
Löwen und zischenden Schlangen, und werdet einsam sein und verlassen
mitten im Haufen der Verdammten. Denn in der Hölle ist nicht Umgang noch
Freundschaft und liebender Verkehr; da waltet der Haß und die
Selbstsucht, und ein jeder hat da mit seiner eigenen Pein und Not zu
viel zu tun, als daß er sich um den andern bekümmern könnte. Und die
Dauer dieses Jammers heißt Ewigkeit. Mit dieser Wahrheit, dünkt mich,
könnte man Felsen springen, Gebirge zittern machen. Und eure Herzen
zittern nicht! Ach, hier ist mehr denn Stein und Felsen!
Fasttage gibt es auch im Reich Gottes, leibliche und geistliche Fasten
von allerhand Art, schmerzliche und fröhliche. Die fröhlichsten werden
in den Lenzmonden des neuen Lebens gehalten, im Angebinde der Bekehrung,
nach den ersten Versicherungen der göttlichen Gnade, nach den ersten
Liebeserklärungen des himmlischen Bräutigams, wenn Gott sein Söhnlein
aus Ägypten gerufen hat. Da braucht man nicht erst zu gebieten: „Sag ab,
verleugne, enthalte dich!" Ei, das macht sich alles da von selbst. Wie
geht’s da fort mit Eile von den Lust- und Weideplätzen der blinden Welt,
als führe man auf Flügeln von dannen! Wie könnte man doch jetzt noch
seinen Bauch mit Trebern füllen, nachdem man von den Weinstöcken des
Gelobten Landes gekostet und aus seinen Milch-und Honigflüssen getrunken
hat? Wie könnte man nun seine Lust noch hören an den Geigen der Tänzer
und den Gesängen der Lustigen nach dem Fleisch, nachdem einem der König
David ein wenig auf seiner Harfe vorgespielt? Wie könnten einem nun
Komödien noch ein andres Gaukelspiel Behagen machen, nachdem man den
Himmel mit all seinen Herrlichkeiten vor sich offen gesehen? Und wie
vermöchte man noch ferner auf den Polstern der Bequemlichkeit und
Schwelgerei zu liegen, da der, den unsre Seele liebt, vor unsern
Geistesaugen blutig, gekrönt mit Dornen, am Holz des Fluches hängt? Ei,
hinweg dann, schnell hinweg mit den Schatten eurer jämmerlichen Freuden
und mit den Flittern eurer Eitelkeiten! Wir haben Fasttag. Es wird so
oft gestritten und gefragt, ob dies und das, ob jenes Vergnügen, dieser
Genuß sich mit dem Christentum reime oder nicht. Man höre auf zu fragen
und werde Christ, so wird sich’s zeigen, was sich reimt und nicht, und
wie weit das Dürfen und das Können eines Neugebornen, eines Erben Gottes
und seines Reiches in dieser Beziehung sich erstrecke. Es gibt noch
andre Fasten im Gnadenstand, Fasten von schmerzlicherer Art, da die
Seele nicht von den Auen der Welt in die des Lammes, sondern von des
Lammes Erquickungsweiden in die Wüste hinausgeleitet wird, und das ist
eine bittere Wanderung. Es war uns, ach, so unaussprechlich wohl an
unsers Jesu Brust; so ein sanftes, süßes Regen und Bewegen; so ein
liebliches Vergnügen und gerührtes Schmecken der Gnade und Nähe unsers
Herrn erfüllte das Gemüt, daß wir nichts lieber hätten tun mögen als so
nur auf der Stelle sterben und aus den lieblichen Vorhöfen nur vollends
jetzt ins Paradies hinüberziehen. Der Südwind blies durch unsern Garten,
daß die Gewürze troffen; die Trauben Kanaans hingen uns in den Mund, und
ein wonnevolles Liebesgefühl lag wie der Tau der Morgenröte über unsre
Seele ausgebreitet. Das erquickte uns königlich und ließ uns allen
Jammer dieser Welt vergessen. Aber ehe wir uns versehen, wird uns
Fasttag angesagt und der Bräutigam von uns genommen. Die Milch- und
Honigquellen sind versiegt, und die Seele, des süßen Tranks beraubt,
sitzt arm, empfindungslos und dürr auf dem Sand und muß die Harfen an
die Weiden hängen und kann nicht anders mehr als höchstens seufzen noch
mit trockner Zunge nach einem Gnadentröpflein auf das dürre Erdreich.
Das sind die Fasttage der Kinder Gottes in der Wüste. Selig, wessen Füße
gestellt sind auf den Fels, welcher ist Christus und sein Wort und nicht
Gefühl und Rührung; dem soll sein Brot gegeben werden, und sein Wasser
hat er gewiß. Auch wenn er nicht hat im Geschmack, so hat er doch im
nackten Glauben, und wenn die liebliche Empfindung weicht, sein Friede
weicht darum noch nicht; er liegt vor Anker bei den Felsen der gewissen
Zusagen seines Gottes, die ewiglich stehen, und weiß, daß, wenn auch
Berge wichen und Hügel hinfielen, die Gnade seines Gottes doch nicht von
ihm weichen und der Bund seines Friedens nimmer hinfallen werde. Auch
dieses Fasten in der Wüste, wenn’s Gott verordnet, ist gut und heilsam.
Dieselbe Gnade, die heute uns speiste und tränkte, läßt uns morgen
hungern, darben und Fasttag halten. Was will man mehr, wenn’s nur die
Gnade ist, an deren Hand wir gehen? Sie führe uns nach ihrem
Wohlgefallen!
Die Versuchungen.
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Jesus ging in die Wüste, um zu fasten; aber im Plan Gottes lag noch mehr
denn dieses. Was sagt das Evangelium? „Da ward Jesus vom Geist in die
Wüste geführt, auf daß er vom Teufel versucht würde.“ Das klingt ja
schrecklich. Der Heilige Geist führte den Sohn Gottes dem Teufel
entgegen, und warum? Mit trocknen, unzweideutigen Worten steht es da:
„auf daß der Teufel ihn versuche.” Welch ein Umstand! Aber tröstet euch
dieses Umstandes, ihr Reichsgenossen, und richtet’ euch daran auf, ihr
angefochtenen Seelen! Euch zum Trost ist er aufgeschrieben. Es denke
doch nur keiner unter euch, als gehe der brüllende Löwe los und
ungebunden in Israel umher und habe freies Spiel und könne überfallen,
wen er wolle, und seine Pfeile schießen nach Belieben und seine
Schlingen legen unversehens, so daß der Fürst über das Heer des Herrn
nicht darum wüßte. Das sei ferne! Unser Hauptmann hat ihn allzeit im
Auge und hält ihn wohl gebunden mit seinem kräftigen Wort, und auch dem
Teufel gilt es, was der Prediger sagt: „Zum Laufen hilft nicht schnell
sein; zum Streiten hilft nicht stark sein.“ Es hat nicht not, daß er
jemand antaste, von welchem Jesus ihm gesagt hat: „An diesen Gesalbten
sollst du deine Hand nicht legen.” Um einen solchen ist eine feurige
Mauer gezogen durch das eine Wörtlein seines Meisters und ein Ringwall,
den kein Feuerpfeil des Argen wird überfliegen können. Welchen aber der
Teufel anfällt, den fällt er an auf ausdrückliche Erlaubnis und
Zulassung des Herrn Jesus, mithin zum Heil und Segen. Und die Linie ist
ihm gezeichnet mit königlichem Zepter, wie weit er kommen darf. Bei
einem Pünktlein heißt’s: „Bis hierher und nicht weiter!" Was will der
Arge? Er ist ausgezogen und öffentlich zur Schau getragen, und Immanuel
hat einen Triumph aus ihm gemacht durch sich selber. Forthin gehört er
mit zu jenen Kräften im Himmel, auf Erden und in der Hölle, mit denen
der Herr macht, was er will. Er braucht ihn, wie er einen Nebukadnezar,
einen Kores und andre Verworfene brauchte, zu Gunsten seines Samens,
braucht ihn als Rute, als Treiber und Zuchtmeister; und wenn er sie wird
genug gebraucht haben, diese schauerliche, grause Geißel, so wird er sie
gar an seinem Knie zerbrechen und von sich schleudern und wird den
Drachen verschließen in den Abgrund. So freut euch denn, ihr Schäflein
Gottes, daß der Teufel nichts andres ist als eures Hirten Hund, der nach
seiner Pfeife tanzen, nach seiner Stimme heulen, nach seinem Wort gehen
und kommen muß! So oft die Feuerpfeile euch umschwirren, so denkt dran,
Geliebte, daß es der Herr ist und sein Geist, der euch zur Wüste führte
und in den Streit euch stellte! Und er ist selbst mit auf dem Plan.
Alle Versuchungen, welche mit göttlicher Bewilligung über die Kinder
Gottes ergehen, haben nur einen Zweck: sie sollen offenbar machen und
ans Licht ziehen, was im Menschen verborgen ist. Manchmal gelüstet es
den Herrn selber, dies Verborgene in der Erscheinung anzuschauen. Denn
er hat Lust an seinen Werken. Als Vater Abraham das saure Opferwerk auf
Morija hatte fertig gebracht, da rief der Herr vom Himmel: „Nun weiß
ich, daß du Gott fürchtest und hast deines eigenen Sohnes nicht
verschont um meinetwillen." Das wußte der Herr auch zuvor, aber er
wollte die Gottesfurcht, die er im Herzen seines Knechts gewirkt, auch
in der Offenbarung schauen; das war ihm eine Augenweide. So muß auch
heutzutage noch manches liebe Gnadenkind in Sturm, Streit und Gedränge
hinein, weil der Herr Jesus das Kindlein möchte beten, seufzen und
anhalten hören und gläubig auf den Meereswogen an seiner Rechten wandeln
sehen; das macht ihm Freude. Freilich darf man diesen lieben Seelen so
etwas nicht sagen; sie würden meinen, wir spotteten ihrer; denn sie
sehen selber nichts Schönes in sich, das den Herrn ergötzen könnte. Aber
der Herr sieht’s wohl und will’s sehen. Manchmal läßt der Herr seine
Kindlein versucht werden und ins Gedränge kommen, damit das Verborgene
ihres Herzens nicht sowohl ihm, als vielmehr ihren Brüdern und
Schwestern in die Augen scheine. Da zeigt er uns eines Abrahams Glauben,
eines Hiobs Geduld, eines Moses Liebe, eines Elias Eifer, einer
Kanaanäerin Demut und Inbrunst, daß wir seine Kraft sollen preisen, die
also mächtig ist in schwachen Menschenkindern. Sind wir aber verzagt und
meinen, ja solche Heilige möchten wohl in den Himmel kommen, mit uns
werde es aber nichts werden, so führt er uns einen David, dort einen
Simon Petrus vor die Augen, Träublein, die unter der Prüfungskelter
nicht bloß Wein, sondern auch bittres Sündenwasser aus ihrem Herzen
ausströmen. Und solch ein Anblick macht uns schon wieder Mut, zumal,
wenn wir hören, daß Simon nichtsdestoweniger ein Fels und David ein Mann
nach Gottes Herzen heißt. Und so ist es auch schon oft der Fall gewesen,
daß solche Menschen, die in einem besondern Glanz der Herrlichkeit
strahlten und eine außerordentliche Verehrung in der Welt genossen, noch
zuletzt unter den Anfechtungsstürmen so entblättert und entfärbt wurden
und ihre Schwachheit, Gebrechlichkeit und Armesünderschaft derart
offenbaren mußten, ja mit dem Glanz ihrer Heiligkeit und herrlichen
Wirksamkeit sogar wie kleine Bächlein in den Sand sich verloren, sie,
die zuvor so prächtige Ströme waren, daß man sie, gegen das Bild
gehalten, das sie früher trugen, kaum wiedererkennen konnte. Das ließ
der Herr denn darum geschehen, damit dem Vergöttern sterblicher Menschen
gewehrt, die Gnade in ihrem Glanz erhalten und die Ehre dem allein
gegeben werde, dem sie allein zukommt. In der Regel geht der Zweck der
Versuchungen, denen wir bloßgestellt werden, dahin, daß uns selber vors
Gesicht kommen möge, was in uns ist, und wir fein niedrig an der Erde
bleiben. Wir Menschenkinder werden gar zu leicht fromm; Jesus aber will
Gottlose. Wir sind gar zu bald gerecht, der Herr aber begehrt Sünder;
wir sind gar zu schnell oben drauf; in der Tiefe will uns Jesus sehen.
Darum läßt er es wohl zuweilen zu, daß der Teufel ein wenig in der
Kloake unsers verderbten Herzens herumrühre, damit der böse Geruch uns
in die Sinne steige und die Ottern- und Schlangenbrut, die still und
ungesehen auf der Tiefe lag, in die Höhe komme und vor unsern Augen auf
der Oberfläche herumzapple. Darum gestattet er es wohl zuzeiten, daß der
Arge den Mückenschwarm gottwidriger Gedanken und Begierden, der in den
Hinterkammern unsrer Seele schlummerte, ein wenig in Alarm bringe, daß
wir gewahr werden, was der Tempel Gottes noch alles in sich beherberge
und das Brüsten und Stolzieren uns rein vergehen muß. Darum erlaubt er
dem Widersacher wohl einmal, über uns herzufallen und über unsre
schlummernden Lüsten in die Wecktrompete zu stoßen. Hei, wie verwundern
wir uns dann, daß sie noch da sind, die alten, häßlichen Gesellen! Und
wir dachten schon, wir hätten sie längst mit dem Besen unsrer frommen
Übungen hinweggefegt und das Haus gar rein gekehrt. Nun aber findet
sich’s ganz anders. Da sieht denn die liebe Braut die Schminke wieder
von ihren Wangen weichen und wird wieder, wie im Anfang, eine Mohrin,
schwarz und ohne Schöne, und tut wieder die erste Buße, aber liebt denn
auch wieder mit der ersten Liebe, und so will es der Bräutigam haben. Da
bricht dem weitgeförderten Heiligen mit einemmal die oberste Stufe
seiner Heiligung unter den Füßen zusammen, und o weh, nicht einmal auf
der untersten Stufe steht er mehr; er liegt darnieder und ist ein armer
Sünder, wie er’s vielleicht noch nie gewesen ist. Da sieht der stolze
Pfau seinen glänzenden Schweif plötzlich auf die Erde fallen; sein
Schimmer vergeht wie Nebel; das prächtige Tier fängt an, sich zu
mausern, wird nackt und bloß, zieht sich schamrot in eine Ecke zurück
und beginnt sich von ganzem Herzen zu freuen, daß ihm ein andrer die
Bekleidung zum Hochzeitsfest schenken will, und daß ein Kreuz steht auf
Golgatha, und daß auf dem Thron eine Königin sitze, die nicht
Gerechtigkeit, sondern Gnade, Gnade heißt.
Der Zweck der Versuchung Jesu.
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Wir wissen es der Hauptsache nach, wozu Gott den Teufel gebraucht bei
seinen Kindern. Es fragt sich nun, aus welchem Grund Gott den Herrn
Jesus habe versuchen lassen wollen. Und da protestieren wir denn
zuvörderst ganz feierlich gegen jene herabwürdigende Ansicht und Lehre,
die ungescheut behauptet, Jesus sei ins Anfechtungsfeuer hineingestellt
worden, damit er in Kampf und Streit, ringend und betend, die Sünde
überwinden und töten möge, die er in seinem eigenen Fleisch, in seinen
eigenen Gliedern getragen habe. Nein, so etwas können wir von unserm
Heiland nicht hören. Daß er in der Gestalt unsers sündlichen Fleisches
erschienen ist, das wissen wir; aber doch nur in der Gestalt, nicht im
sündlichen Fleisch selbst, und war er uns in allem gleich, so war ein
Punkt doch ausgenommen, nämlich die Sünde. Gottlob, daß uns darüber das
Wort Gottes nicht in Zweifel läßt! Mit der vollkommenen Unsündlichkeit
und Reinheit unsers Meisters steht und fällt das ganze Gebäude unsrer
evangelischen Hoffnungen. Wäre die weiße Leinwand seiner Unschuld auch
nur mit dem allergeringsten Stäublein irgendeiner ungöttlichen Lust und
Regung befleckt gewesen, könnte das uns jemand beweisen, dann die Kirche
nur geschlossen, die Bibel verbrannt, das Vertrauen weggeworfen und der
Verzweiflung Raum gegeben! Denn dann wäre Jesus unser Heiland nicht und
seine ganze Bezahlung ungültig und ungenügend.
Die Versuchungen, die über Jesus kamen, waren dem Zweck nach sehr
verschieden von denjenigen, welche wir zu erfahren pflegen. Er erfuhr
sie nicht für sich, sondern für uns und an unsrer Statt. Sie gehörten
mit zu seinem stellvertretenden Opferleiden. Wir sahen Adam von der
Schlange versucht, aber mutwillig den Strudeln der Anfechtung sein
Schifflein preisgegeben. Der andre Adam macht das wieder gut, indem er
einer noch schwereren Anfechtung sich bloßstellt, die Lanzen des Feindes
zerbricht, den Widersacher weit überwindet und dem Vater einen
vollkommenen Gehorsam leistet. Adam war durch Ungehorsam des Teufels
Raub geworden; der andre Adam trinkt für ihn den Fluch und steigt vom
Thron der Majestät herunter in die Gesellschaft der bösen Geister, in
den Pfuhl der Hölle. Beispiellose Erniedrigung! Der allmächtige Gott von
den Mörderhänden Satans angetastet, der König des Weltalls von der alten
Schlange umzischt, der Alleinheilige mitten in der Obrigkeit der
Finsternis gelagert und der Herr der Heerscharen ein Spielball der
verfluchten Höllenengel, von ihnen aufgegriffen, hinweggerafft,
davongetragen und zu den schändlichsten Dingen versucht und
aufgefordert. Grauenvolle Lage für den Sohn Gottes, grauenvoller und
entsetzlicher, als wir es uns vorstellen können; denn wir stehen von
Natur dem Teufel, der unser Vater ist, schon näher. Uns, die wir sein
Bildnis an uns tragen, ist seine Schwärze nicht so gräßlich, nicht so
widerwärtig, als sie es dem sein muß, der im Licht wohnt und selber
nichts als Licht ist. Wahrlich, kein geringes Leiden konnte es für ihn
sein, so unter den Teufeln Hausen zu müssen. Aber bis in diesen Pfuhl
und Abgrund mußte der Sohn Gottes herunter; also mußten die Bäche
Belials ihn erschrecken, auf daß Bezahlung geschähe für die
Riesenschuld, die wir gehäuft; unter solchen Widerständen und
Hindernissen mußte er allein, sich selbst gelassen, ohne Hilfe durch
Kampf und Streit den Willen Gottes tun, auf daß er mit einem glänzenden,
vollkommenen Gehorsam den Ungehorsam Adams und seines Samens vor Gott
bedecke.
Ein andrer Zweck der Versuchung Jesu war der, daß er uns ein mitleidiger
Hoherpriester werden möge. Das hätte er allerdings auch sein können,
ohne unsre Anfechtungen selbst zu schmecken; aber wir schwachen
Menschenkinder können es nun besser glauben, daß er es ist, und haben
desto größern Freimut, unser Herz vor ihm auszuschütten und im Dunkel
der Anfechtungen ihm unsre Not zu klagen. Wenn sich zwei Menschen
treffen, die von gleichen Nöten und von denselben Faustschlägen des
Satans nachzusagen wissen, o was ist da gleich für ein Auftun der Herzen
gegeneinander, für ein inniges Anschließen, für ein vertrauliches
Mitteilen und zärtliches Teilnehmen! Da schüttet man sich einander aus,
da fließt man ineinander über, und Zeit und Weile wird nicht lange.
Gegen jemand, der unsre Nöte nicht aus Erfahrung kennt, ist man stumm,
verschlossen und spürt nicht Lust, ihm mitzuteilen, weil man befürchtet,
er werde uns weder verstehen noch nachempfinden können. Gewiß, auch
gegen unsern himmlischen Freund ständen wir weit fremder, wäre er uns
nicht ein Genosse unsrer Leiden geworden. Nun aber ist uns der Gedanke
ungemein erquicklich, daß er selbst versucht ist allenthalben wie wir
und die bittersten Ängste unsrer Seele kennt aus eigenem Empfinden. Wenn
nun kein Mensch uns versteht, ach, so ist doch ein Freund zur Hand, dem
wir nur ein weniges zu lallen brauchen von unsern Sachen und Ständen, so
weiß er schon, wie uns zumute ist. Bis in die dunkelsten Nächte der
Seele, bis in die schauerlichsten Tiefen innerlicher Leiden und
Anfechtungen reicht seine Erfahrung hinunter. Unter keinem Wacholder
kannst du sitzen, auch er saß einmal darunter; kein Dorn kann dich
verletzen, auch sein Herz hat davon geblutet; kein Feuerpfeil treffen,
auch auf sein Haupt ist er abgeschossen worden. Er kann wohl Mitleid
haben; ja, glaub’s nur, liebe Seele, so oft du im Tiegel liegst, gehen
dem Schmelzer die Augen über, und ein großes, heiliges, liebes
Mutterherz blutet über dir vor Mitgefühl im Himmel.
So waren es also in bezug auf die Sünderwelt lauter Absichten der
Barmherzigkeit und Liebe, aus denen Gott seinen Sohn ins Feuer der
Versuchung stellte. Es fragt sich nun, ob Gott dabei nicht auf den
Versucher selbst ein Absehen gehabt habe, und diese Frage möchte ich um
so eher bejahen, je ausgezeichneter die Stellung ist, welche dieser
gefallene Engelfürst im Reich der Geister ein nimmt. Jenes satyrmäßige
Gebilde mit Hörnern und Tierfüßen, unter denen der Volksglaube den
Teufel anzuschauen gewohnt ist, und in welchem mehr das Element des
Lächerlichen, Plumpen und Gemeinen als das des Großartigen und
Furchtgebietenden vorwaltet, hat wenig Wahrheit. Ungleich tiefer schon
und an Realität und Wahrheit reicher ist die in so mancher Volkssage
einer grauen Vorzeit lebende Ahnung, welche überall das Ungeheure, das
Wilde, Schauerliche und kühn Gestaltete in der Natur in irgendeiner
Weise mit dem Teufel in Zusammenhang zu bringen pflegt und in Wald-,
Gebirgs- und Felsengegenden bald hier, bald dort einen Teufelsstein,
eine Teufelsleiter, eine Teufelskanzel oder eine Teufelsbrücke uns zu
zeigen hat. Man lese nur die einzelnen, zerstreuten Züge zusammen,
welche die Schrift uns an manchen Orten aus dem Bild dieses gefallenen
Morgensterns, dieses Erstlings der Kreatur hat flüchtig hingezeichnet,
und man wird sich im Angesicht dieses Fürsten der Hölle einer gewissen
Ehrfurcht und Bewunderung nicht erwehren können. Er ist das Ungetüm, von
welchem der Herr spricht: „Kannst du mit ihm spielen wie mit einem Vogel
oder ihn für deine Dirnen binden? Kannst du ihm eine Angel in die Nase
legen und mit einem Stachel die Backen durchbohren?“ Er ist der
Gewaltige, dem das Zeugnis gegeben wird: „Niemand ist so kühn, der ihn
reizen darf. Wer kann ihm sein Kleid aufdecken? Und wer darf es wagen,
ihm zwischen die Zähne zu greifen? Wer kann die Kinnbacken seines
Antlitzes auftun? Schrecklich stehen seine Zähne umher. Seine stolzen
Schuppen sind wie feste Schilder, fest und eng ineinander. Eine rührt an
die andre, daß nicht ein Lüftlein dazwischen geht. Sein Niesen glänzt
wie ein Licht; seine Augen sind wie die Augenlider der Morgenröte. Aus
seinem Mund fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Sein
Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Mund gehen Flammen. Er hat
einen starken Hals, und ist seine Lust, wo er etwas verdirbt. Sein Herz
ist so hart wie ein Stein und so fest wie ein Stück vom untersten
Mühlstein. Wenn er sich erhebt, so entsetzen sich die Starken, und wenn
er daherbricht, so ist keine Gnade da. Wenn man zu ihm will mit dem
Schwert, so regt er sich nicht. Er achtet Eisen wie Stroh und Erz wie
faules Holz. Den Hammer achtet er wie Stoppeln; er spottet der bebenden
Lanzen. Auf Erden ist ihm niemand zu vergleichen; er ist gemacht, ohne
Furcht zu sein. Er verachtet alles, was hoch ist; er ist ein König über
alle Stolzen.” Seht, das sind die Züge aus dem Bild jenes gewaltigen
Geistes, der, in seinem ursprünglichen Glanz angeschaut, kein andrer
noch geringerer ist als der Gottessohn der Rationalisten.
Der Satan, diese auch in ihrer Verwüstung noch so erhabene,
bewunderungswürdige Ruine unbeschreiblicher Herrlichkeit, die als solche
noch den Meister lobt, der sie geschaffen — denn wo ist ein Verstand, wo
eine Klugheit, wo eine Beharrlichkeit, Energie und Gewalt wie die
seinige? Und was uns jetzt noch an ihm in Erstaunen setzt, es sind nur
Überbleibsel seines ursprünglichen Glanzes — der Satan, sage ich,
erscheint auch als Satan noch in der Schrift in einer gewissen Majestät.
Nicht allein, daß er ein Herr, ein Gewaltiger, ein Fürst genannt wird,
er heißt sogar der Gott dieser Welt, und es ist nicht zu verkennen, daß
ihm als solchem hin und wieder sogar ein gewisser Respekt bewiesen wird.
Man denke nur, der Apostel Judas sagt, da der Erzengel Michael mit dem
Teufel gestritten und sich über den Leichnam Moses mit ihm unterredet
habe, da habe Michael nicht gewagt, selbst ein Urteil der Lästerung oder
der Schmähung gegen ihn zu fällen; er habe das Gott überlassen wollen
und gesprochen: „Der Herr strafe dich!“ Bei Hiob sehen wir den Satan gar
mitten unter den Engeln und guten Geistern am Thron Gottes stehen. Und
der Herr läßt sich mit ihm in eine Unterredung ein, fragt ihn, ob er
auch seinen Knecht Hiob kenne und auf ihn acht gehabt habe, und auf die
verschlagene Bemerkung des Verklägers: „Meinst du, daß Hiob umsonst Gott
fürchtet?” gibt ihm der Herr Gewalt über alles Eigentum seines Knechts
und erlaubt ihm, Hiob heimzusuchen und zu prüfen, damit er, der Teufel,
erfahre, wie die Kraft Gottes mächtig sei in Hiobs Schwachheit. Welch
ein wundersamer Umstand! Da sollte man ja sagen, es liege dem
Allmächtigen etwas daran, daß auch dieser Fürst der Finsternis ihn
erkenne und ihm die Ehre gebe. Und so verhält sich’s auch; aller Knie
sollen sich vor ihm beugen, und alle Zungen bekennen, daß er der Herr
sei. So sollte denn auch der Teufel in den Grund des Versöhnungswerks
einen Blick tun und zunächst vermittelst der Versuchung das Opferlamm in
seiner Reinheit, den Bürgen in seiner Zahlungsfähigkeit kennenlernen,
damit auch er wisse, daß Zion durch Recht erlöst sei und nicht durch
Willkür, und gegen die Seligkeit der Sünder keine gegründeten Einsprüche
mehr einlegen könne. Wenn der klügste und scharfsinnigste aller Geister
gezwungen wird, über Gottes Weisheit zu erstaunen, seine Werke zu
bewundern, vor seinen Ratschlüssen zu verstummen und sein Tun auch wider
Willen und Lust zu loben, so gereicht das allerdings nicht wenig zur
Verherrlichung des göttlichen Namens. Einer der erhabensten und
feierlichsten Augenblicke am großen Tag der Offenbarung und
Verherrlichung Gottes wird der sein, in welchem auch der Satan
öffentlich wird bekennen müssen, daß dem Lamm die Ehre gebühre und der
Preis, und ein Gott, wenn ich so sagen mag, vor dem andern zitternd wird
die Knie beugen. Das wird ein Lobgesang sein von nicht geringerer Kraft
als das Halleluja der himmlischen Scharen.
Der Versucher.
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Vierzig Tage und Nächte hatte der Herr in der einsamen Wüste fastend
zugebracht, und es hungerte ihn. Da trat der Versucher zu ihm, sichtbar,
aber verkleidet und verstellt zum Engel des Lichts.
Er kam in zweifacher Absicht. Zunächst wollte er darüber ins reine
kommen, ob Jesus der Sohn Gottes wirklich sei oder nicht, und dann,
falls er es wäre, gedachte er ihm eine Klippe in den Weg zu schieben, an
der sein Rettungswerk für ewig scheitern sollte.
Es ist mir sehr glaublich, was auch schon von andern behauptet worden
ist, daß der Versucher über die Person Christi noch in Zweifel gestanden
habe. Dreißig Jahre hatte Jesus in der tiefsten Verborgenheit
zugebracht, ein Zimmermannssohn, der das Handwerk seines Vaters erlernt
hatte, im Schweiß seines Angesichts mit seiner Hände Arbeit in der
Werkstätte sein Brot verdiente, schlecht und recht dahinlebte und nichts
tat und sprach, was nicht andre Menschenkinder auch hätten tun und
sprechen können. Es dachte niemand mehr daran, daß er etwas mehr sein
könne als ein liebenswürdiger Mensch, und vielleicht waren Maria und
Joseph in ihren Erwartungen von ihm nicht wenig heruntergestimmt, da
keine Wunder geschahen und die Stimmen vom Himmel ausblieben. Gott
verschleierte seinen Sohn dermaßen, daß auch selbst die scharfen Augen
des Satans an diesem schlichten Zimmermann sich wohl versehen konnten.
Doch ganz versahen sie sich nicht. Unter den Menschen dachte niemand
mehr daran, daß dieser einfache Arbeiter an Josephs Hobelbank der
Messias sein könne. Der Satan aber war klug genug, auf den äußern Schein
von Armut und Niedrigkeit nicht zu viel zu geben. Er konnte sich’s
möglich denken, daß dieser Zimmermann bei aller äußerlichen Dürftigkeit
dennoch der Herr sei. Er fand nichts Widersprechendes darin, daß der
Versöhner in solcher Armut sein Werk beginnen sollte, und mancher
Umstand schien ihm deutlich dafür zu sprechen, der Jesus von Nazareth
sei der Gottessohn. Doch witterte er nur so etwas, bestimmt wußte er es
nicht. Es verlangte ihn nach Gewißheit, um alsdann seine Maßregeln
ergreifen zu können. Hätte der Teufel in Jesus wirklich den Messias
schon erkannt gehabt, so wäre in seinem Verfahren gegen ihn vieles
unerklärbar, wie wir später sehen werden. Jesus zu ergründen, war die
nächste Absicht, in welcher der Satan auf ihn eindrang. Sehr klüglich
aber richtete der schlaue Geist zugleich seine Versuchungen so ein, daß,
wenn Jesus wirklich der Messias wäre, sein Erlösungswerk von vornherein
einen solchen Stoß dadurch bekäme, daß es für immer vereitelt wäre. Den
Heiland durch einen gewandten Fechterstreich aus seiner Mittlerbahn
herauszuwerfen und seine eigene Herrschaft über die Menschheit für ewige
Zeiten festzustellen, das also war die andre Absicht, die der Fürst der
Finsternis im Schild führte. Um diese Absichten zu erreichen, gibt er
sich vor Jesus das Ansehen eines wohlwollenden, gutmeinenden Freundes.
Er stellt sich, als ob auch er nichts so begierig wünschte, als daß das
Erlösungswerk möge zustande kommen. Er tut so, als wollte er ihm nur
einen kürzern Weg zu diesem erhabenen Ziel weisen und richtet alles so
schlau, so fein und listig ein, wie man es von einem Wesen erwarten
darf, das von der obersten Stufe der Weisheit und des Verstandes in den
tiefsten Abgrund der Bosheit hinuntersank.
Versuchungsfähigkeit.
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Mit der äußersten List und Tücke bewaffnet, tritt der Versucher zu
Jesus. Er hoffte, die schauerliche Einsamkeit in dürrer, unfruchtbarer
Wüste, in welcher Jesus sich befand, werde ihm den Sieg erleichtern. Da
Jesus hungerte, machte er Anstalt zum ersten Anfall. So weiß dieser
Seelenmörder immer am rechten Ort, zur rechten Zeit und unter den
rechten Umständen seine Waffen wider uns zu kehren. Wenn wir einsam sind
und von den Leuten abgesondert, wenn keine Menschenaugen uns bewachen,
keine lieben Brüder uns warnen und erwecken, keine miterlösten Seelen
uns stärken und ermuntern; wenn unsre Gedanken gehen, wohin sie wollen,
dann macht sich dieser Starke herzu und spannt sein Geschoß und sucht
sein Gift uns in das Herz zu flößen. Und wenn uns hungert oder dürstet,
wenn sich Bedürfnisse in uns regen nach dem oder jenem, nach Geld oder
Brot, nach Ruhe oder Ehre, Bequemlichkeit oder Freude, wenn Wünsche
aufsteigen in unserm Herzen, seien diese Wünsche an sich auch nicht zu
tadeln, dann ist er gleich zur Hand, stellt sich freundlich und uns
zugetan, dient uns mit einem guten Rat nach dem andern, entdeckt uns
Mittel über Mittel zur Erfüllung unsrer Wünsche. Und wie gottwidrig
diese Ratschläge an sich dann auch sein mögen, so versteht er’s doch,
sie so zu schmücken und zu färben, so scheinbar sie mit dem Wort Gottes
in Einklang zu bringen, daß wir meinen, ein guter Engel habe sie uns
eingegeben, und es war doch kein andrer als Satanas in Engelsgestalt.
Das unergründliche Geheimnis seiner Bosheit, Kunst und Arglist ist wohl
nie so offenbar geworden als gerade in den Anfechtungen, mit welchen er
unsern Heiland heimsuchte. Christus also konnte versucht werden? Ja, er
konnte das nicht bloß, sondern Paulus sagt: „Er ward versucht wie wir,
und zwar in allem.“ Luther übersetzt „allenthalben”. Die Hand mochte dem
teuren Mann zittern, da er das Wort „in allem“ niederschreiben wollte.
Aus heiliger Scheu und tiefer Ehrerbietung schrieb er lieber
„allenthalben”. Unser Heiland erschien, wie die Schrift sagt, in der
Gestalt des sündlichen Fleisches, d.h. in der durch den Fall
geschwächten Menschennatur. Alle Folgen der Sünde gingen auf ihn über,
nur nicht die Sünde selber. Er ward versucht, doch ohne Sünde. Die
unsündlichen Triebe und Schwachheiten unsrer Natur waren auch sein
Erbteil. Es hungerte und dürstete ihn, er konnte müde und schläfrig
werden, weinen und sich freuen, der Ruhe und der Erholung bedürftig sein
usw. Diese an sich unsündlichen Gebrechlichkeiten und Bedürfnisse
gedachte nun der Versucher als Handhaben zu gebrauchen, um daran den
Herrn von dem ihm vorgezeichneten Gottesweg abzuleiten. Er schlug ihm
zur Befriedigung dieser Bedürfnisse Mittel und Wege vor, die durchaus
nicht Gottes Wege waren. Hätte der Erlöser diese Wege betreten, ja auch
nur von fern sich gelüsten lassen, es zu tun, dann wäre dem Satan sein
ungeheures Bubenstück gelungen. Das Lamm hätte ein Fehl gehabt, der
Priester ein Gebrechen, das Opfer wäre ungültig gewesen, der ganze
Erlösungsplan für ewige Zeiten gescheitert und wir alle rettungslos der
Hölle preisgegeben. Wie vieles steht da in der Wüste auf dem Spiel!
Welch ein über alle Maßen wichtiger und verhängnisvoller Auftritt ist
die Versuchung Jesu! Wie sollten wir nicht mit der äußersten Spannung
unsrer Seele auf die fernere Entwicklung in den Ausgang dieses
Ereignisses begierig sein!
Der erste Anfall.
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Der Versucher hatte zu seinem ersten Angriff einen gelegenen Zeitpunkt
abgewartet. Jesus hungerte; da tritt er vor ihn hin und spricht: „Bist
du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden!“ Das war der
erste Anfall, durch welchen der Versucher teils über die Person Jesu zur
Gewißheit kommen, teils, falls er der Herr vom Himmel wirklich wäre,
sein Opferwerk mit einem Schlag vernichten wollte. Der Teufel legte es
darauf an, die reine Seele des Erlösers zuerst mit der Sünde des
Mißtrauens zu beflecken. Wie er im Paradies seinen Angriff mit einem
„Sollte Gott gesagt haben?” begann, um unsre Stammeltern an dem
göttlichen Verbot irrezumachen, so auch hier. Das „Bist du Gottes Sohn?“
war im Grund nichts andres als ein verstecktes „Sollte Gott gesagt
haben?”, als ein Versuch, ihn an dem Zeugnis, das er bei der Taufe von
seinem Vater empfangen hatte, irrezumachen. Jetzt bemerkt nur einmal die
ungeheure, beispiellose Schlauheit des Versuchers! Mit dem einen Wort:
„Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden,“ stellt
er unserm Heiland nicht eine, sondern unzählige Fallen und Schlingen,
und die eine ist versteckter und gefährlicher als die andre. „Entweder,”
dachte der Teufel, „wird er nun, wenn er Gottes Sohn ist, an seiner
Sohnschaft und an dem Zeugnis Gottes irre werden; es wird ihm
unwahrscheinlich vorkommen, daß Gott sein Kind so in der Wüste zwischen
den Steinen und unfruchtbaren Dornen könne darben und verschmachten
lassen, und dann ist seine Seele mit Unglaube besudelt.“ „Oder,” dachte
der Schlaue, „er wird vor mir den Schleier abwerfen und schnell durch
ein Wunder von seiner Sohnschaft mich überzeugen wollen; und dann
handelt er gegen den Rat Gottes, der ihn arm sein, leiden und sich
seiner Herrlichkeit entäußern heißt, um Adams Schuld zu büßen.“ „Sollte
aber auch das nicht geraten,” meinte der Teufel, „daß ich ihn bewöge,
den Weg der Armut zu verlassen und aus der Niedrigkeit herauszutreten,
um mir und andern seine Würde zu enthüllen, so wird ihn vielleicht das
Bedürfnis seiner hungernden Natur dazu reizen, meinem Rat Folge zu
leisten. Es wird ihn verzeihlich dünken, durch die Macht, die Gott ihm
gegeben, vom Hungertod sich zu retten; er wird die Steine zu Brot
machen, durch Selbsthilfe sich der Leiden überheben und also den Kelch
der Bitterkeiten von sich schieben, ohne dessen Ausleerung keine
Versöhnung möglich ist." Das waren die Gedanken des Teufels; er hoffte,
daß Jesus, wenn er auch an der einen Schlinge glücklich vorüberkäme,
doch in der andern oder dritten werde gefangen werden. Und in der Tat,
feiner hätte der Plan nicht angelegt und ausgesonnen werden können. Ohne
ein Wunder der Bewahrung würde hier der Heiligste gefallen sein. Wäre
nur ein Äderchen von Sünde in Jesus gewesen, hier wäre es
herausgesprungen und an den Tag getreten. Aber nein, kein Stäublein geht
über die weiße Leinwand seiner Unschuld. Er steht allein im Feld;
niemand hält, niemand bewahrt ihn. Dennoch bricht er durch alle Lanzen
siegreich durch; der Teufel wird geschlagen, Jesus triumphiert.
Die Versuchung, aus Steinen Brot machen zu wollen, gehört zu den
alltäglichsten; etwas davon erfahren alle Kinder Gottes in dieser oder
jener Weise. Es sind Brüder unter uns, ich rede von Brüdern in dem
Herrn, denen ist auch ein Fasten angesagt zu dieser Zeit. Sie haben
nicht Arbeit noch Erwerb und müssen sorgen um das tägliche Brot. Brüder,
ihr sitzt in der Wüste zwischen den Steinen und Dornen, und es hungert
euch. Es sollte ein Wunder sein, wenn nicht auch zu euch sich der
Versucher schliche, hier mit einem: „Bist du auch wohl Gottes Kind, daß
Gott dich so darben läßt?“, und dort mit einem: „Sprich zu diesen
Steinen, daß sie Brot werden!” Es sollte ein Wunder sein, wenn er nicht
auch euch mit allerlei Ratschlägen käme, entweder: „Sei niederträchtig
und schmeichle, daß du zu Gunst und Brot kommst!“, oder: „Trüge und
lüge, daß du Geld gewinnst! Ergreife dieses, jenes Sündenhandwerk und
rette dich vom Hungertod, oder schlag dich auf die Seite der Spötter und
Kreuzesfeinde, daß dich die ernähren; setze in die Lotterie, daß dir das
Los aufs Liebliche falle.” Oder was für Wege er sonst euch zeigen möge.
Das heißt denn auch nichts andres als: „Sprich zu diesen Steinen, daß
sie Brot werden!" Aber, meine Brüder, laßt ihr die Steine Steine sein
und Steine bleiben und erwartet das Brot von dem, der es euch zu geben
verheißen hat, und er hat euch Größeres verheißen denn dieses. Gott hat
die Haare auf eurem Haupt gezählt und wird von seinen Kindlein keins
verschmachten lassen. Sollte es nicht viel besser sein, zu fasten und zu
darben in Gottes Namen, als im Namen des Teufels gute Tage zu sehen?
Eure Fasttage werden ein Ende nehmen, wenn sie zu eurem Heil sollen
ausgewirkt haben, was sie nach Gottes Rat auswirken sollen. Getrost, ihr
wandelt in der Wüste, um die Treue und Herrlichkeit des Herrn zu sehen,
die besser in der Wildnis und der Dürre als auf dem fetten Land erkannt
wird! Es sind Seelen in unsrer Mitte, die von ihrem Christentum nichts
andres haben als Schmach und Spott und wenig Freude und Erquickung. Es
sollte ein Wunder sein, liebe Seelen, wenn sich der Satan nicht drein
mischte; sei es nun, um das ganze Christentum euch verdächtig zu machen,
oder um euch die Freude, die ihr in Gott nicht findet, nun wieder in der
Welt und ihren Dingen anzuweisen. Brüder, es ist der Teufel, der euch
solchen Rat gibt und euch bewegen möchte, die Steine eurer Leiden und
eurer Freudenarmut in eigener Wahl und außer Christus in Brot zu
verwandeln. Ich denke, wir ziehen’s vor, die wenigen Tage dieses Lebens,
wenn es so sein muß, mit Christus in der Dürre zu sitzen und im Tiegel
zu liegen und dann seine Herrlichkeit zu teilen, und lassen die
Henkermahlzeit, die der Teufel uns bereiten möchte, mit Freuden denen,
die Lust zu tragen scheinen, ohne Ende mit ihrem finstern Oberhaupt im
Feuerpfuhl zu brennen und zu heulen.
„Der Herr schelte dich, du Satan!" sei unser Feldgeschrei, so oft wir
diesen Drachen in unsrer Nähe schleichen hören. Gottlob, seitdem der
rechte Michael sich mit ihm geschlagen und ihn niedergerungen hat, ist
seine Macht über uns zu Ende. Mit Fäusten schlagen kann er uns, einen
Fuß uns stellen auch, daß es wohl mal zum Wanken, Brechen und Fallen
kommt; verderben kann er uns doch nimmer. Und schleicht er auch um unsre
Zelte herum, der brüllende Löwe, und sucht, welchen er verschlinge, er
hat doch einen Ring durch die Nase und eine Kette um den Hals. Unser
Fürst und Hauptmann hält ihn wohl und zeichnet ihm die Marke, wie weit
er kommen soll. Verrammeln wir uns nur in Christi Wunden! In dieser Burg
sind wir gesichert und singen fröhlich:
Der Fürst dieser Welt,\
Wie sau’r er sich stellt,\
Tut er uns doch nicht,\
Das macht, er ist gericht’t,\
Ein Wörtlein kann ihn fällen.
Christi Waffe und Sieg.
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Die Waffe, mit welcher Jesus den Sieg errang, war das Wort Gottes. Ein
einfaches und gläubiges: „Es steht geschrieben," und der Teufel war
geschlagen, sein Anschlag vereitelt. Die Bibel ist das Rüsthaus der
Streiter Gottes, der geistliche Waffensaal, wo die Wände von Schilden
und Panzern starren, von Speeren und Schwertern blitzen und
widerleuchten. Wer je einen geistlichen Sieg erfocht, hier wappnete er
sich zum Kampf; wo je ein geistlicher Goliath überwunden zu Boden
stürzte, die Schleudersteine, die seine Schläfe zerschmetterten, waren
hier zusammengelesen. Wer in diesem Rüsthaus freien Ein- und Ausgang
hat, der macht dem Teufel etwas zu schaffen. Die Waffe des göttlichen
Worts scheut er, und solange die Welt steht, ist er schon darauf bedacht
gewesen, ob er den Waffensaal der Schrift nicht ausräumen und
verrammeln, ob er dieses gefährliche Geschütz nicht vernageln, diese
Lanzen nicht zerbrechen könnte. Was hat der schlaue Sophist nicht alles
schon versucht, was nicht schon alles herausgegrübelt und zu Markt
getragen, um das Wort Gottes verdächtig und zweifelhaft zu machen und
ihm das Ansehen eines untrüglichen Gotteswortes zu rauben? Was hat er
nicht unter dem Prunktitel der Aufklärungen für verfluchte Lügen in
Umlauf gesetzt über die Entstehung und Echtheit der Bibel? Es ist ja
nicht ein einziges Buch in der Schrift, an dem der Boshafte nicht
gerüttelt, kein einziges Wunder, das er nicht zur Fabel hätte stempeln,
keine einzige Verheißung, die er nicht hätte entkräften und vernichten
wollen. Und noch immer ist er geschäftig, sei es durch seine Werkzeuge
und Diener, durch falsche Propheten, Professoren und andre schlimme
Leute, oder sei es in eigener Person durch unmittelbares Einflüstern;
noch immer ist er geschäftig, an der Untrüglichkeit des göttlichen
Wortes uns irrezumachen; denn dieses Wort ist sein Sturz. Aber speit ihm
ins Angesicht, dem verfluchten, und kehrt ihm den Rücken, wo er das
falsche Maul auftut; denn er ist ein Mörder und ein Lügner von Anfang,
ja ein Vater der Lüge.
„In welcher Weise aber,“ fragt ihr, „kann nun das Wort Gottes uns in
Versuchungen so vortreffliche Dienste tun?” Das will ich euch sagen. So
oft der Teufel uns fangen und verleiten will, so geht seine erste und
vornehmste Sorge dahin, unsre Begriffe zu verwirren. Was verkehrt ist,
stellt er uns als recht, was menschlich, als göttlich, was böse, als gut
vor Augen. Die Wahrheit sucht er uns zur Lüge, die Lüge zur Wahrheit zu
machen; und indem er uns also betrogen und verblendet hat, tun wir
seinen Willen, vielleicht gar in der Meinung, wir täten etwas recht
Gutes. Dieses verruchte Zauberwerk kann ihm aber nicht gelingen, wenn
wir mit dem Glauben in Gottes Wort stehen. Dieses Wort stellt uns vor
der Verwirrung und dem Betrug sicher; denn es sagt uns jederzeit auf das
unzweideutigste, was recht sei und nicht recht, was wahr sei und was
Lüge und was wir nach Gottes Willen in diesem oder jenem Fall zu tun, zu
denken und zu sagen haben. Beispiele machen die Sache klar. Der Teufel
will einem Prediger des Evangeliums die Arbeit verderben und seine
Predigt entkräften. Er fängt es schlau an. Er macht dem Prediger den
Vorschlag, er möge doch ein wenig sanfter predigen, er möge den Weg doch
nicht gar so schmal, die Pforte nicht gar so eng machen, so werde er mit
der ganzen Gemeinde in Freundschaft bleiben. Ja viele, die er jetzt nur
aufsässig mache, werde er dann leicht für die Wahrheit gewinnen können,
und wie die angenehmen Gründe sonst noch lauten mögen, mit denen der
Schalk seinen Ratschlag zu unterstützen weiß. Steht nun der Prediger in
eigener Erwägung und hat keinen andern Schild als das eigene Gutdünken,
dann ist er schon gefangen, der Vorschlag des Teufels wird ihm
einleuchten; denn der Teufel ist klüger als er. Steht er aber mit dem
Glauben in Gottes Wort, kann er gläubig erwidern: Es steht geschrieben:
„Die Pforte ist eng, der Weg ist schmal, der zum Leben führt!“; es steht
geschrieben: „Verflucht sei, wer Evangelium anders predigt, als
gepredigt ist!” was will der Teufel dann? Dieser Trotz auf ein Wort
Gottes, dies gläubige: „Es steht geschrieben“ ist dem Satan ein
Artilleriefeuer, da er nicht durchkommen kann, das ihn auf der Stelle
zum Rückzug nötigt. Ein andres Beispiel! Der Teufel möchte dir gern den
Glauben nehmen, daß das Christentum wirklich der einzige Weg zum
Seligwerden sei. Wie fängt er’s an? Sehr schlau, sehr verschlagen. Er
führt dich im Geist auf eine Höhe und zeigt dir die Millionen Seelen,
die in der Christen- und Heidenwelt noch außer Christus leben, und nun
beginnt er seine Predigt. „Sag,” spricht er, „sollten die wohl alle
verloren gehen? Das wird doch weder deine Vernunft noch dein Herz
bejahen können. Sie glauben aber nicht an Jesus, wenigstens nicht wie du
und deinesgleichen. Sollte denn Christus wirklich wohl der einzige Weg
sein? Sollte denn, was du Wiedergeburt nennst, zum Seligwerden so
unbedingt erfordert werden? Solltest du nicht zu engherzig, zu
beschränkt von der Sache des Seligwerdens denken?“ So der Teufel. Bist
du nun mit deiner Vernunft allein auf dem Kampfplatz, so wirst du dieser
Schlinge nicht entrinnen, du wirst dem Teufel in seinen Trugsätzen recht
geben, und er wird den Triumph feiern, den Grund, darauf du stehst, mit
leichter Mühe dir unter den Füßen wackelnd gemacht zu haben. Kannst du
aber zur Waffe des göttlichen Wortes greifen, kannst du einen Ausspruch
Gottes dem Versucher trotzig entgegenhalten und im Glauben zu ihm
sprechen: Es steht geschrieben: „Wahrlich, wahrlich, es sei denn, daß
jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht
sehen;” es steht geschrieben: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich;“ es steht geschrieben:
„Es sind wenige, die auf diesem Weg wandeln — und wenige sind
auserwählt;” kannst du, sage ich, die göttlichen Aussprüche gläubig
umklammern, so ist der Teufel schon geschlagen, sein Netz zerrissen. Er
wird es aufgeben, dich überzeugen zu wollen, daß Christus nicht der
einzige Grund des Heils sei, er müßte denn die Hoffnung haben, das Wort
selbst, darauf du dich gestützt, dir verdächtig machen zu können. Noch
ein Beispiel! Der Teufel möchte dich gern in die Welt zurückbringen. Wie
fängt er’s an? Er schleicht sich leise in deine Nähe und stellt dir vor,
es sei doch gar nicht recht, daß du dich von der Welt so schiedest und
die Gesellschaft Andersdenkender so gar vermiedest; es vertrage sich das
nicht wohl mit der christlichen Nächstenliebe. Du müssest je zuweilen
die weltlichen Zirkel besuchen, um dein Licht da leuchten zu lassen und
den Leuten zu zeigen, daß das Christentum keineswegs zu verdrießlichen
Mönchen und Einsiedlern bilde, sondern fröhliche Menschen mache, um sie
so für das Christentum zu gewinnen. Ja auch um dich selber in der
Heiligkeit zu üben und zu befestigen, müssest du von der Welt dich nicht
zurückziehen, denn da heilig sein, wo man von Lockungen und Anfechtungen
der Sünde unberührt bleibe, das sei ein Geringes, aber dem Bösen unter
die Augen treten und zum Bösen sagen: Ich mag dich nicht, das sei die
Sache. So räsonniert der Satan; dem alten Menschen gefällt das wohl.
Gibst du dich nun in eigener Klugheit mit ihm ans Streiten, so verlaß
dich darauf, du ziehst den kürzern; er bringt dich herum und behält das
Feld. Denn kein Doktor und Professor versteht sich aufs Disputieren wie
er. Das Alleralbernste weiß er einem ganz plausibel und einleuchtend zu
machen. Kannst du ihm aber gläubig mit einem Wort Gottes begegnen,
kannst du in diesem Fall z.B. zu ihm sprechen: Es steht geschrieben:
„Stellt euch der Welt nicht gleich!“ so kann er nichts mehr machen; du
hast ihm den Degen aus der Hand geschlagen. So ist das Wort Gottes, wenn
es im Glauben erfaßt, umklammert und gehandhabt wird, ein mächtiges
Geistesschwert, wie der Apostel es nennt, damit wir den Drachen
schlagen. „Ja, die zehn Gebote schon,” sagte jemand, „wenn sie in unser
Herz geschrieben sind und wir sie gegen ihn aussprechen, können ihn
vertreiben." Sie sind wie zehn Simsonskeulen, wie zehn Michaelsschwerter
gegen den brüllenden Löwen.
Wie siegte nun der Herr? Der Satan riet ihm, aus Steinen Brot zu machen,
sich also von der Qual des Hungers durch Selbsthilfe zu erlösen. Das war
ein tückischer und verfänglicher Ratschlag, wie ihr wißt. Es hätte, wir
reden auf Menschenweise, dem Herrn Jesus vieles begegnen können, in
diesen Rat zu willigen, und es ist euch bekannt, daß alsdann das
Erlösungswerk mit einem Schlag vereitelt worden wäre. Aber er tat es
nicht. Er ließ die Steine Steine sein und hungerte fort. Was hielt ihn
ab, dem schlauen Rat des unbekannten Fremdlings zu folgen? Ein Wort
Gottes. Auf das, was 5. Mose 8, 3 geschrieben steht, fiel sein inneres
Auge; das umklammerte er mit dem Glauben, das hielt er dem Versucher
entgegen. Es steht geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein,
sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Und in
diesem göttlichen Ausspruch fand er Beweggrund genug, lieber noch einmal
40 Tage und Nächte, ja auch länger noch, wenn es sein müßte, Hunger zu
leiden, als durch eine mißtrauische Selbsthilfe der Hilfe des Vaters
vorzugreifen. „Der Vater kann mich ohne Brot erhalten; er hat mich in
diese Wüste geführt, ich hoffe auf ihn!” Das war sein Gedanke; fürwahr,
ein undurchdringlicher Panzer um seine Brust. Nun konnte der Teufel
getrost auf andre Künste sinnen. Ihn zur Selbsthilfe zu verleiten und
zum Abwerfen dessen, was er als Bürge tragen und leiden mußte, um das
Verbrechen Adams zu büßen, dazu war alle Aussicht mit einem Mal ganz und
gar geschwunden. Denn Jesus glaubte dem göttlichen Wort, daß Gott ihn
auch in der bittersten Darbezeit ohne Speise speisen, ohne Trank tränken
und durch ein bloßes Wort seines Mundes ernähren und erhalten könne. An
dem Glauben mußten alle Lanzen des Teufels splittern wie an einer
eisernen Schanze.
Die Worte, mit denen Jesus die Versuchung überwand, stehen, wie gesagt,
im fünften Buch Mose, Kapitel 8, 3. Mose hält daselbst, an der Grenze
des Gelobten Landes, dem Volk Israel vor im Auftrag Gottes, wie der Herr
sie so treu und gnädig die 40 Jahre hindurch geleitet habe. „Er
demütigte dich,“ spricht er, „und ließ dich hungern und speiste dich mit
Manna, das du und deine Väter nie gekannt hattest; auf daß er dir
kundtäte, daß der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem,
das aus dem Mund des Herrn geht.” Ja, der Herr bedarf nicht der Mühlen
noch des Bäckerofens, um seine Kinder zu erhalten; er kann ihnen auch
das Brot aus den Wolken regnen lassen, wie er in der Wüste tat; er kann
es ihnen geben über Nacht, wenn die Kindlein schlafen. So hat er’s ja
getan am Krith, so zu Zarpath bei der Witwe, so an vielen andern Orten.
Es ist ihm ein Leichtes. Und das äußerliche, leibliche Brot, das er uns
gibt, das ist es auch nicht, was uns nährt und woran unser Leben hängt,
sondern das eigentlich Nährende, Stärkende und Erhaltende, das ist
allzeit sein Wort, sein Wille, sein Segen und seine verborgene Kraft,
die er dem äußern Mittel beifügt. Weil er will, daß es uns nähre, darum
nährt uns das Brot, das wir essen, und sobald er das nicht mehr will, so
können wir kneten, würzen, backen, wie wir wollen, es ist kein Gedeihen
dabei; wir werden elend, und unsre Kräfte schwinden mitten im Überfluß.
Weil nun also die ernährende Kraft nicht im Brot liegt, sondern allein
in Gottes Wort und Willen, so ist es denn auch zu begreifen, wie er mit
fünf Broten und zwei Fischen 5000 Mann vollkommen sättigen konnte, wie
er den Elia durch die Kraft eines Gerstenbrotes vierzig Tage und vierzig
Nächte zu erhalten vermochte, ja, wie er so manche arme Familie sättigt
und im Stand hält, die außer einem Stücklein trocknen Brots des Morgens
und des Abends kaum etwas anders zu sehen bekommt. Der Herr braucht gar
kein Brot zu unsrer Erhaltung, wenn er’s nicht will. Sein bloßes Wort:
„Er soll leben!“ ist genug, so leben wir. Ohne Brot ist Mose erhalten
auf Sinai, Jesus in der Wüste und viele, viele andre. Er brauchte nur zu
sprechen, so würde uns die Luft, die wir einatmen, zu Milch und Wein,
und wir äßen das Köstlichste und tränken lauter Kraft und Stärke, ohne
den Mund aufzutun, ohne uns an einen Tisch zu setzen und ohne eine Hand
zu regen. Das heißt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von
einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht.” In
Verfolgungszeiten haben das Tausende von Kindern Gottes im
allerbuchstäblichsten Sinn erfahren; gläubige Arme erfahren es noch
immer, und es ist wahr, so wahr ein lebendiger Gott im Himmel wohnt.
Darum alles, was Not leidet unter uns, ergreife diese Wahrheit, daß sie
ihn bewahre vor der Furcht und der ganzen Verzagtheit und ihn beschilde
und bepanzere gegen die Anläufe und Versuchungen des Bösewichts! Es hat
dem lieben Gott gefallen, viele seiner treuen Kinder unter uns in große
Verlegenheit zu führen. Es beginnt an allem zu fehlen, an Brot und
Brand, an Arbeit und Erwerb und vielleicht gar auch an Aussicht und an
Kredit. Sie sind recht in der Wüste zwischen den Steinen, und des
Seufzens ist viel bei Tag und Nacht. Stehlen und betrügen werden sie
nicht. Gott wird sie in Gnaden davor bewahren. Aber dem Teufel wäre
schon viel gelungen, wenn nur der Gedanke in ihnen Raum fände: „Gott hat
uns fahren lassen; nun müssen wir sehen, wie wir uns selber
durchschlagen.“ Dem Teufel wäre schon viel gelungen, wenn sie nur in ein
mißtrauisches Überlegen und Sorgen hineingerieten: „Was werden wir
essen, was werden wir trinken, oder womit werden wir uns kleiden?” Oder
wenn sie auf die Idee verfielen, Gott wolle ihnen durch die Not hier
einen Wink geben, daß sie hier durch eine gewagte Spekulation, dort
durch ein Spiel oder durch eine List oder durch welches ungebührliche
Mittel es sei, sich selber helfen möchten. Ja, dann wäre dem Versucher
schon vieles geglückt. Gönnt dem Widersacher solche Triumphe nicht,
meine verlegenen Brüder! Begegnet ihm mit der Waffe, die euer Meister
wider ihn führte, welche dadurch ja eine besondere Weihe, Heiligkeit und
Kraft empfing, und sprecht im Glauben: „Es steht geschrieben, der Mensch
lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus
dem Mund Gottes geht!“ Das ist Wahrheit. Daran haltet euch fest, darauf
baut und wartet, wartet nur ein wenig in der Wüste; wahrhaftig, Gott
wird euch nicht im Stich lassen! Ihr habt Brüder unter euch, ich könnte
sie euch mit Namen nennen, die waren in größerer Not als ihr. Sie haben
ohne Mißtrauen jenem Wort geglaubt; sie haben in diesem Glauben dem
Teufel, so oft er mit seinen verfluchten Ratschlägen kam, resolut und
ohne Komplimente die Tür gewiesen und auf den Herrn gehofft. Jetzt ist
ihr Mund voll Lachens. Um Berge voll Gold und Silber gäben sie die
Erfahrungen nicht hin, die sie während ihrer Darbezeit in der Wüste
eingesammelt haben. Sie haben die Herrlichkeit des Herrn gesehen und
sind selber lebendige Zeugnisse geworden, daß der Mensch nicht lebt vom
Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes
geht. „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden!” So
der Teufel. Er forderte, daß Jesus seine Sohnschaft beweisen sollte.
Jesus aber wollte diese Beweisführung lieber seinem himmlischen Vater
überlassen. O meine Brüder, möchtet so auch ihr in allen Fällen die
Beweisführung von eurer Kindschaft still dem Herrn überlassen. Er wird
es kundtun, daß ihr seine Kinder seid; vielleicht nicht dadurch, daß er
euch in Häusern des Überflusses leben läßt, aber dadurch dann ganz
sicherlich, daß er euch mitten in der Wüste erhält, zwischen den Steinen
und Wacholdersträuchen euch singen macht und euch ohne Brot ernährt mit
dem bloßen Wort, das aus seinem Mund geht.
Der zweite Anfall.
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Der erste Versuch des Teufels gegen Jesus war mißglückt. Ob Jesus der
Sohn Gottes sei, konnte er noch nicht wissen, und war er’s, so hatte ihn
die Anfechtung keinen Finger breit aus seiner Mittlerbahn
herausgeworfen. Der Satan machte Anstalt zu einem zweiten Angriff. Er
führt Jesus in die heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des
Tempels. Vielleicht in einem Gesicht nur? Nein, körperlich, wie es der
Buchstabe der Geschichte anzunehmen zwingt. Jesus wurde auf eine
übernatürliche Weise fortgerafft, durch die Luft in einem Augenblick in
die heilige Stadt hinübergezaubert und dann blitzschnell emporgeflügelt
auf das platte Dach einer am Bergesabhang hinausstehenden Seitenhalle
des Tempels. Dieselbe Gewalt, die einst der Heilige Geist in der Wüste
an Philippus ausübte, war hier dem bösen Geist von Gott geliehen. Wie
ein Adler mit seinem Raub, so fuhr der Fürst der Finsternis mit dem
Herrn der Herrlichkeit davon. Das ist schauerlich und furchtbar: aber
das Schauerlichste wollte er ja empfinden und erfahren, dem
Fürchterlichsten sich hingeben, um so den Kelch unsers Fluchs rein
auszutrinken und keinen Scherf noch Heller unsrer Schulden unbezahlt zu
lassen. Er wollte ein Spielball sein der höllischen Geister damit uns
Verfluchte die Engel Gottes auf sanftern Händen in Abrahams Schoß tragen
könnten. Wußte Jesus jetzt, daß es der böse Engel sei, mit dem er’s zu
tun habe? Ich glaube nein; nach einem heiligen Ratschluß Gottes war es
ihm noch immer verborgen, auf daß die Versuchung desto schwerer würde,
aber auch der Sieg einen um so größern Wert und Glanz gewinnen möchte.
Jesus steht auf der hohen Tempelzinne, der Satan zu seiner Seite. Ein
schwindelnder Abgrund zu ihren Füßen. Tief unter ihnen liegt die Stadt,
noch tiefer im Talgrund, wie ein Streiflein, fließt, fast verschwindend,
der Bach Kidron. Der Satan gibt sich nun ganz das Ansehen des
wohlmeinendsten Freundes, der es von Herzen mit Jesus halte und, falls
er der Sohn Gottes sei, einen und denselben Zweck mit ihm verfolge und
nichts so sehnlich wünsche, als daß das Erlösungswerk so schnell wie
möglich zur Vollendung kommen möge. Er weist hinunter in die
fürchterliche Tiefe und spricht: „Bist du Gottes Sohn, so laß dich da
hinab!“ Vielleicht setzt er noch mehreres hinzu: „Sieh, ich wüßte es
gern, ob du der Sohn Gottes seist; ich warte nur auf die Gewißheit, um
dir dann sofort meine Knie zu beugen und meine Dienste anzubieten. Ich
bin nicht der einzige, der auf solche Enthüllung deiner Person und Würde
sehnlichst harrt. Du wirst König sein und Gebieter über ein großes Volk,
sobald es dir gefallen wird, deine königliche Herrlichkeit zu entfalten.
Siehe, hier ist Gelegenheit; laß dich hinab von dieser Höhe! Dies Wunder
wird die Welt in Erstaunen setzen, über deine Majestät keinen Zweifel
mehr übriglassen und aller Knie in den Staub zwingen. Du wirst wie Gott
sein. Und nicht bloß andre, auch du selbst wirst alsdann zur völligen
Gewißheit kommen, daß du der Messias wirklich seist und Gott dich nicht
verlassen habe, wie es seit Anbeginn deiner Darbezeit in der Wüste doch
den Anschein hat.” Der Art etwas mochte der Teufel hinzusetzen. Um noch
sicherer zu seinem Zweck zu kommen, hält er ihm die herrliche Verheißung
des 91. Psalms vor, die ihm ja vorzugsweise gegeben sei: „Er wird seinen
Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen,
auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ In der Tat, der
Plan war fein ersonnen und die Versuchung hart. Ja, der Verführer schien
ein wohlmeinender Engel zu sein und sein Vorschlag fromm und gut und
zweckmäßig. Da steht der Herr am schwindelnden Abhang; was wird er tun?
Ein Schritt vorwärts, und er ist erhöht; die Engel tragen ihn sanft zur
Tiefe, das Volk jauchzt ihm Hosianna, und er ist der Bewunderte, der
Angestaunte und Angebetete. Aber das Werk der Versöhnung ist ewig, ewig
gescheitert, denn der Priester hat alsdann die Opferstraße der Armut und
Entäußerung verlassen, der Mittler hat dem Plan und Ratschluß Gottes
entgegengehandelt, das Lamm trägt ein Fehl an sich; es ist befleckt mit
der Sünde des Gottversuchens, darum untauglich zum sühnenden Opferlamm.
O verhängnisvoller Augenblick! Doch gottlob, Jesus durchschaut das
satanische Gewebe. Das wußte er freilich wohl, daß die Engel ihn tragen
würden. Aber sollte er auf einem selbsterwählten Weg die Macht und Treue
Gottes in Anspruch nehmen? Nein, nein, um alles nicht! Seine heilige
Seele schauderte vor dem satanischen Vorschlag zurück. Ein Bibelwort
soll ihn fangen und stürzen, ein andres wird ihm zum Halt, zu Schild und
Lanze. Wiederum steht auch geschrieben: „Du sollst Gott, deinen Herrn,
nicht versuchen.” Er ruft es, und der Teufel ist zum zweitenmal
geschlagen.
Geistliche Höhen.
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In der heiligen Stadt, im geistlichen Jerusalem, offenbart der Satan
noch immer seine schlausten Künste und listigsten Anschläge, und seine
glänzendsten Siege, mögen sie auch nur von kurzer Dauer sein, pflegt er
in der heiligen Stadt davonzutragen. Es gibt noch immer Versuchungen
und, durch des Teufels List veranlaßt, geistliche Zustände, die jener
schauerlichen Entführung unsers Herrn auf die Tempelzinne ganz ähnlich
sehen; es sind die geistlichen Höhen. Der beste und glückseligste Stand
auf Erden ist unbestritten der, als ein Wurm zu Jesu Füßen sich zu
halten, bettelarm am Geist mit Lazarus an der Tür des reichen Mannes zu
wohnen und mit der Kanaanäerin, einem Hündlein gleich, nur die
Brosamlein zu begehren, die von des Herrn Tisch fallen. So steht man
sich wohl, so wird man reich, so liegt man sicher. Aber freilich, das
heißt dem Teufel sein Spiel verderben. Kein Wunder darum, daß der
Bösewicht auf nichts so sehr bedacht ist, als wie er die Kinder Gottes
aus diesem Stand der Kleinheit und geistlichen Armut herauslocke. Auf
mancherlei Weise sucht er das zuwege zu bringen. Laßt mich euch das eine
und andre davon sagen! Verkleidet in die Gestalt eines Lichtengels tritt
er zu dir und führt dich in die heilige Stadt, das heißt, er breitet vor
deinen innern Augen alle die Gaben und Gnaden, Rechte und Vorzüge aus,
deren du als Mitgenoß des Himmelreichs teilhaftig geworden seist, so daß
du meinst, ein guter Engel gebe dir diese freudigen Blicke. Nun hebt der
Verschlagene eine von diesen Gaben heraus, z. B. die Gabe des Heiligen
Geistes, und fängt an, dir auseinanderzusetzen, was alles du an dieser
Gabe habest, wie der Heilige Geist dich heilige und erleuchte, wie er
dich in alle Wahrheit führe, die Tiefen der Gottheit erforsche, dich
leite und bewege, in dir spreche und zeuge; und allerdings, so verhält
sich’s auch. Aber der Teufel geht weiter und sucht dich nun zu
überzeugen, daß der Geist dir auch wohl Neues müsse offenbaren können,
was die Bibel stückweise nur oder gar nicht enthalte. Der Teufel geht
weiter und lehrt dich eigene Gedanken für Gedanken des Geistes ansehen.
Der Teufel geht weiter und erklärt dich für einen Inspirierten, der des
äußern Lichts im Buchstaben nicht mehr bedürfe, weil er das innere habe,
und, ach, ehe du dich’s versiehst, bist du hinaufgezaubert auf die Zinne
des Tempels, fühlst dich über Gottes Wort und Zeugnis, Kirche und
Predigt hoch erhaben; siehst dies alles samt dem ganzen Jerusalem der
andern Gläubigen tief unter deinen Füßen liegen, und wenn du nicht
schwindlig wirst auf dieser Turmesspitze und ein Ende nimmst mit
Schrecken im schauerlichen Abgrund des Wahnsinns, so hast du es allein
der allmächtigen Gnade zu verdanken, die dich gehalten. Solche
Teufelsstricke waren es, in welche vor kurzem unsre Brüder zu S . . .
gerieten, die sich in keine Ordnung mehr fügen noch durch das Wort
Gottes sich mehr wollten zurechtweisen lassen, indem sie sich auf den
Geist beriefen, der ihnen andres und Höheres gezeugt habe. Es mochten
wahre Kinder Gottes unter ihnen sein, die denn auch schon wieder
zurechtkommen werden; aber immer bleibt es doch eine traurige und
schaurige Verirrung. Gott bewahre uns vor solchem Zauber! Zum Wort
gegriffen, meine Brüder: „Verflucht, wer Evangelium anders predigt, als
gepredigt ist;“ es steht geschrieben: „Dein Wort ist meines Fußes
Leuchte.” Solch ein: „Es steht geschrieben!", im Glauben ausgesprochen,
verjagt den Teufel.
Will es dem Satan in der einen Weise mit uns nicht gelingen, probiert
er’s in einer andern; und bevor er nicht alles versucht hat, macht er
nicht Feierabend. Man hat schon allerlei Leute auf der schwindelnden
Tempelzinne stehen sehen; der eine war auf dem, der andre auf jenem Weg
hinaufgezaubert. Der erhob sich in dem süßen Wahn, als gebe es für ihn
kein Geheimnis mehr, als sei er ein Erleuchteter Gottes wie wenige und
trage den Schlüssel Davids in der Tasche. Bei seinem Erkenntnisreichtum
hatte ihn der Teufel angefaßt und ihm, nach seiner Höllenexegese, das
Sprüchlein ausgelegt: „Ihr habt die Salbung und wißt alles.“ Ein andrer
hielt sich für den Mann, der mit dem Schwert seines Mundes den Erdboden
schlage, mit dem Zepter seiner Worte die Gemüter beherrsche, und nach
welchem niemand reden dürfe. Seine Lehr- und Predigtgaben waren ihm
durch des Teufels List zu Strick und Falle geworden. Ein dritter
stolzierte in dem Gedanken umher, als habe es mit seiner Stellung zu
Gott wohl ganz etwas Absonderliches auf sich, als sei er im Reich
Christi wohl um ein paar Stühle höher gesessen als andre Sünder.
Vielleicht waren es die Gebetserhörungen, die er erfuhr, aus denen der
Teufel ihm ein süßes Gift bereitete. Bei einem vierten hatte sich die
Idee fixiert, ohne ihn könne das Reich Gottes nicht bestehen; er sei ein
Pfeiler drunter sondergleichen, ein Apostel, ein Elia seiner Tage. Der
Segen, den Gott auf sein Wort und Zeugnis legte, war ihm durch des
Teufels Kunst zur Leimrute geworden, daran er gefangen ward. Einem
fünften hatte der Teufel vorgespiegelt, seine Träume und Phantasien
seien eitel göttliche Gesichte — und was für Offenbarungen! Und nun
hielt sich der arme Mensch für einen Visionär, für einen Seher und
Propheten. Einem sechsten hielt der Satan einen Zauberspiegel vor die
Augen, in welchem der arme Mensch mit einem Heiligenschein ums Haupt
sich erblickte. Oder der Teufel schickte ihm Freunde, die seine
Sanftmut, Geduld, seinen Glauben oder seine Liebe rühmen, bewundern und
vergöttern mußten. Und da kam denn die bedrückte Seele nach und nach auf
den Gedanken, Gott müsse sie wohl als ein Beispiel der Heiligkeit unter
den Menschen haben hinstellen wollen. Seht, das sind Höhen, das heißt
geführt werden auf die Tempelzinne. Und wenn es immer dabei nur bliebe,
daß sich diese armen, betrogenen Menschen für Apostel, Heilige und
Propheten ansähen. Aber stehen sie erst auf solcher Höhe, so geht’s
nicht selten noch höher hinauf. Nicht alle werden langsam, ohne Schaden
genommen zu haben, zur Treppe wieder hinuntergeführt; ach, manche
stürzen von diesen schwindelnden Spitzen in die Tiefen des Irrsinns
hinunter. Solche Unglücklichen, die sich endlich gar für Gott gehalten
haben, für den Herrn Christus selber, für den Heiligen Geist, hat es zu
allen Zeiten gegeben, und das sogar inmitten der heiligen Stadt. Brüder,
haltet euch in eurer Burg und bleibt am Staub, vor allem, wer reich ist
an Gaben und geschickt zum Unterweisen, wer in Ansehen steht bei den
Brüdern und öffentlich redet in ihren Versammlungen, wer fromme Vereine
leitet und wessen Licht mit besonderer Helle in Zion leuchtet! Bei
solchen findet der Drache leicht eine Handhabe, daran er sie fassen und
mit sich in die Höhe raffen kann. Gürtet als Panzer um eure Brust das
Sprüchlein: „Selig sind, die geistlich arm sind, denn das Himmelreich
ist ihr!” Setzt als Helm auf euer Haupt die Wahrheit: „Wer das Reich
Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der kann nicht hineinkommen!“
Nehmt als Schwert in die Hand das Wort: „Gott widersteht den
Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt Er Gnade;” und haltet den Gedanken
fest, daß die goldene Rose Jesus nicht auf der Höhe, sondern in tiefen
Tälern blühe! Und will der Teufel euch hineintreiben in ein vermessenes
und verwirrendes Spekulieren über unerforschliche Geheimnisse, reizt er
euch zu einem eitlen Grübeln, sei es über die Dreieinheit, sei es über
den Begriff der Ewigkeit, sei es über die zwei Naturen in Christus oder
über welche Schwindeltiefen es sein mag, so nehmt euch zusammen und
schreit ihm zu: „Es steht geschrieben: Unser Wissen ist Stückwerk, und
unser Weissagen ist Stückwerk; wenn aber das Vollkommene kommen wird, so
wird das Stückwerk aufhören!" Bedeutet ihm im Namen Jesu, ihr begehrt
nicht mehr zu wissen, als was zu eurer Seligkeit zu wissen nötig sei, so
werdet ihr den Teufel bannen.
Bist du Gottes Kind, so laß dich hinab!
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Daß der Teufel gern unsre Kindschaft benutzt, um uns desto sicherer zu
allerhand gottwidrigen Schritten zu bewegen, ist eine bekannte Sache. Da
hat der Teufel z. B. in Erfahrung gebracht, das; dir noch irgendeine
Schoßsünde in den Gliedern steckt, deren du noch nicht Meister werden
kannst. Nun führt er dich in eine Umgebung oder Lage, welche diese
Begierde nicht nur in dir aufregt, sondern dir auch Gelegenheit bietet,
sie zu befriedigen. Da stehst du am Rand einer Tiefe. „Laß dich hinab!“
flüstert der Teufel. Du willst entfliehen. „Weile, weile!” heißt es
wieder, „es ist so angenehm da unten.“ Du sträubst dich. „Laß dich
hinab!” schreit er noch lauter. Du zitterst vor der Gefahr, und dennoch
kannst du nicht von dannen kommen und bist wie festgezaubert. „Laß dich
hinab!“ fährt der Satan fort, „du bist ja Gottes Kind, du kannst ja
wieder Gnade finden!” Er spricht’s, und wenn Gott dich nicht hält, so
ist der Sturz geschehen. Du bist zornmütig von Natur; da legen dir deine
Hausgenossen etwas in den Weg, und dein Herz ist am Brausen. Du übtest
gern Rache, aber du weißt nicht, ob du darfst; du stehst an einem
Abgrund. „Laß dich hinab!“ ruft der Teufel; „du bist ja Gottes Kind, und
zwischen Gottes Kindern und der Welt soll ja nicht Friede sein, sondern
Schwert und Scheidung; gib deinem Eifer Raum!” Er spricht’s, und ehe er
noch ausgeredet, tobst du vielleicht mit Wut und Schnauben schon daher
und häufst Sünde auf Sünde. Du steckst in bittern Nöten und bist des
Lebens satt. Da stellt dich der Teufel auf das Dach deines Hauses oder
auf eine jähe Felsenwand oder ans Ufer eines tiefen Wassers. Ach, es ist
ein schauerlicher Abhang, an dem du stehst. „Laß dich hinab!“ flüstert
der Arge. Du möchtest gern, doch graut dir’s noch vor solchem Sprung.
„Was zögerst du,” fährt der Versucher fort, „laß dich hinab! Im Arm des
Todes schläft sich’s süß, und alle Not ist da zu Ende. Laß dich hinab,
du stehst ja in Gnaden, und Gnade bleibt, und Gnade weicht nicht, wenn
auch Berge wichen! Laß dich hinab und eile in die Heimat!" So die
Schlange. O fürchterlich! Du schwankst, du schaust hinunter; ja, die
Lust ist groß, der Drang ist stark, die Willigkeit vorhanden, und wenn
nun die Hand der göttlichen Erbarmung nicht schnell dazwischenfährt, so
ist der Sprung geschehen.
Der Satan machte dem Herrn Jesus den Vorschlag, er möge auf einem
gottwidrigen Weg, nämlich durch einen selbsterwählten Sprung von der
Tempelzinne, die Menschen überzeugen, daß er der Sohn Gottes sei. Mit
ähnlichen Vorschlägen schleicht er sich auch wohl zu den Gläubigen. „Man
zweifelt an deinem Gnadenstand,“ flüstert er uns zu, „man trägt
Bedenken, dich unter die Kinder des Reichs zu zählen; beweise ihnen, wer
du seist!” Und nun ist’s hohe Zeit, zum Schwert zu greifen gegen den
Versucher, mit dem Wort ihm zu begegnen: „Der Herr kennt die Seinen,"
und daran uns genügen zu lassen. Aber auch die teuersten Seelen geraten
oft in solchem Fall in entsetzliche Irrwege; der in schändliche Lügen,
indem er sich geistlicher Erfahrungen rühmt, die er wirklich nicht
machte; jener in frevelhafte Geistestreibereien, indem er Stimmungen in
sich erzeugen will, die der Herr allein geben kann; dieser in
lästerliche Verstellungen, indem er Gesalbtheit erheuchelt, die ihm für
den Augenblick doch nicht geschenkt ist; jener in fatale Unlauterkeiten,
indem er Taten tut im eigenen Geist und dieselben doch als solche will
angesehen wissen, die Gottes Geist durch ihn verrichtet habe. Und welche
Greuel könnten größer sein in Gottes Augen als diese? Wie mag der Teufel
höhnisch lachen, wenn es ihm gelungen ist, Kinder Gottes in solchen
Unflat zu versenken!
„Laß dich hinab!“, sprach der Satan und mochte als Grund beifügen, daß
er dadurch die Ausführung der göttlichen Ratschlüsse beschleunigen
könne. Gar zu lieb wäre es ihm gewesen, wenn er im Herzen Jesu eine
Ungeduld über das langsame Vorwärtsschreiten seines Erlösungswerkes
hätte rege machen können. Und o wie gern mag er auch die Gläubigen zu
solcher Ungeduld reizen; wie gern spornt er sie an, in selbsterwählten
Übungen ihre Heiligkeit rasch zu vollenden und in schnellen Schritten
hohe Stufen und Staffeln in der persönlichen Herrlichkeit ersteigen zu
wollen! Wie gern ruft er auch in dieser Beziehung ihnen zu: „Springt
hinab und wählt den kürzesten Weg!” Denn es ist dem schlauen Gesellen
wohl bewußt, daß solch ein Vorwärtslaufen nur ein Zurückgehen sei, weil
es ein Abweichen ist vom Thron der Gnade und vom Blut des Lammes, und
daß uns auf solcher selbsterwählten Straße keine Engel auf den Händen
tragen, sondern daß unser Fuß an lauter Steine stoßen und wir in nichts
als in Lüge. Dünkel, Stolz und Selbstgefälligkeit hineingeraten werden.
Sind es Zeugen und Prediger, o wie gern sieht er’s, wenn ihnen die Zeit
zu lang wird, bis Gott ihre Arbeit kröne, und wie gern nährt er diese
Ungeduld in ihrem Herzen, wie gern ruft er ihnen zu: „Laß dich hinab von
der Tempelzinnei" Und welche Freude für ihn, wenn sie folgen und mit
eigenem wildem Feuer die Bekehrung der Gemeinde nun erzwingen wollen,
wenn sie mit fleischlichem Rumoren danach trachten, die Leute sozusagen
im Sturm zum Himmelreich hineinzutreiben und, weil es Gott nicht tut,
sich selbst zu gürten, zu salben und auszurüsten. Das ist dem Teufel ein
Fest; denn er weiß, daß es nun am wenigsten gelinge und daß zu solchem
dünkelhaften und selbstischen Treiben der Heilige Geist sich nicht
bekennen werde. Leute, durch welche der Herr etwas ausrichten will, sind
zerbrochene Werkzeuge, liegen still in ihres Gottes Händen und lassen
sich von Jesus leiten, treiben, führen und regieren, und so gerät es
besser; das Stürmen tut es nicht.
Gottes Wort als Satans Waffe.
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„Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab!“ So der Teufel zu Jesus. In der
Tat eine schwere Aufgabe. Aber Kinder Gottes, geschweige denn der Sohn
Gottes selber, dürfen noch Größeres wagen. Petrus durfte getrost aus dem
Schiff auf die brausenden Meereswogen treten; die drei Männer bei Daniel
in die Flammen des Feuerofens; es war keine Gefahr dabei. Unsre
Verheißungen gehen sehr weit; darauf kann man schon etwas unternehmen,
und die göttliche Zusage, welche der Satan mit frommer Miene hervorhob,
um Jesus damit zum Sprung zu bewegen, ist noch lange nicht die stärkste.
Allerdings ist den Engeln Gottes Befehl getan, daß sie uns auf den
Händen tragen; als eine Leibwache und sichere Hut, auf deren Begleitung
und Schutz wir in allen Wegen, die Gott uns gehen heißt, fröhlich zählen
dürfen, sind sie uns zugesellt. Auf jene Verheißung hin hätte sich der
Herr getrost in die Tiefe stürzen dürfen, aber er tat es nicht. Warum
nicht? Er zog es vor, diesmal den natürlichen Weg zu wählen und die
Treppe hinunterzugehen. Aus welchem Grund? Weil der andre ihm von Gott
nicht gewiesen war. Kaum war der satanische Vorschlag heraus, da trat
gleich das göttliche Gebot vor Jesu Seele. „Nein,” dachte das reine
Lamm, „für solche selbsterwählten Wege ist die Verheißung nicht
gegeben.“ Und sprach der Satan: „Es steht geschrieben: Der Herr wird
seinen Engeln über dir Befehl tun,” so begegnet Jesus dem Versucher mit
gleicher Waffe aus der Rüstkammer des göttlichen Wortes. Er spricht:
„Hinwiederum steht auch geschrieben: du sollst den Herrn, deinen Gott,
nicht versuchen;" und der Teufel war abermals geschlagen.
Was heißt denn Gott versuchen? Zuvörderst, wie wir gesehen, sich
eigenwählerisch in Gefahr begeben, daß Gott uns rette. Zu solchen
nichtswürdigen Schritten mag der Teufel uns gern verleiten und hat zu
diesem Zweck die kräftigsten Gottesverheißungen auswendig gelernt, ob er
damit uns überrumple. Darum, wo irgendein Wort Gottes uns vorgehalten
wird, um uns dadurch zu irgendeinem kühnen Schritt zu locken, so laßt
uns fragen, ob dieses Wort auf diesen Fall auch passe und ob wir auch
Befugnis haben, unter diesen Umständen desselben uns zu trösten! So wird
uns bald klar werden, wer uns das Wort vorhält, und der Teufel wird uns
so leicht nicht überlisten. Kommt einer und spricht: „Steure hinaus in
die tosende Brandung und rette den Bruder aus den Wellen, denn es steht
geschrieben: ,So du durchs Wasser gehst, sollen dich die Ströme nicht
ersäufen’;“ heißt es zu dir: „Steig in dieses brennende Haus und
entreiße das schreiende Kind den Flammen, denn Gott hat gesagt: ,Wenn du
durchs Feuer gehst, so bin ich bei dir’;” ruft es in deinem Herzen: „Gib
diesen verhungernden Menschen nur deinen letzten Groschen, denn es steht
geschrieben: ,Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir
getan’“: dann, Freund, lichte in Gottes Namen die Anker und tu also! Ein
guter Engel redet mit dir, und du darfst auf alle Hilfe hoffen. Tritt
aber einer zu dir und spricht: „Komm, Freund, in diese lustige
Gesellschaft, denn es steht geschrieben: ,Der Herr bewahrt die Seelen
seiner Heiligen’;” heißt es zu dir: „Geh nur, wag’s einmal und gib die
Arbeit dran und feire, denn es steht geschrieben: ,Seinen Freunden gibt
er’s schlafend’,“ so wisse, es ist der listige Teufel, mit dem du’s zu
tun hast. Antworte ihm: „Wiederum steht auch geschrieben: ,Versuche Gott
nicht!’ und: ,Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, wird drin
verderben’.”
Teufelsschlingen wie jene, aus dem Wort Gottes selbst zusammengedreht,
gibt es noch manche. Dahin gehört denn auch jene verfluchte Anfechtung,
wodurch er uns reizt, Versuche zu machen, ob dieser oder jener göttliche
Ausspruch sich auch bewähre, und also die Treue und Wahrhaftigkeit des
Herrn gleichsam zu probieren und ins Examen zu bringen. So soll ihm z.B.
einmal ein abscheuliches Bubenstück gelungen sein mit drei Predigern.
Denen hielt er Matthäus 18, 20 vor die Augen: „Wo zwei oder drei in
meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen,“ und dann
das andre Wort: „Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist,
daß sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im
Himmel,” und fragte dann: „Sollte dem wohl also sein?“ Da dachten die
Prediger leider: „Wir wollen’s probieren!” und setzten eine Stunde fest,
da wollten sie zusammen sein und beten, daß der Herr persönlich
erscheinen möge. Daran wollten sie erproben, ob er wahr geredet. Und sie
fanden sich beieinander ein und hoben an zu beten: „Erscheine, Herr!“
Aber der Herr erschien nicht. Da schrie der Teufel „Triumph!” Der
schwere Frevel war vollbracht. Hinterdrein ist der Herr ihnen freilich
erschienen, aber in gar andrer Weise als sie’s erwartet hatten. Er ward
ihnen wie eine Motte und Made, und ist hinfort kein Segen mehr noch
Licht, nicht Friede noch Freude gewesen bei jenen Männern bis an ihr
Ende und ein geistlich Herunterkommen und Verfallen, dem nicht zu
steuern war. Behüt uns Gott in Gnaden vor einem solchen Probierenwollen!
Das leiseste Gelüste derart, das sich in uns regt, sei uns ein sicheres
Merkzeichen, daß es nicht geheuer um uns sei, und so laut und kräftig
als wir können laßt uns schreien: „Satan, es steht geschrieben: ,Du
sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!’“ Einer der
gewöhnlichsten Satansstreiche ist der, daß er mit dem Wort Gottes selbst
uns Mißtrauen gegen dasselbe einzuflößen sucht. Wunderliche Dinge muß
man da erleben. Da stellt er uns z.B. in einem Augenblick eine Menge
unbedeutender Umstände aus der Bibel in den Blick, als, daß Paulus dem
Timotheus schreibt, er möge ihm seinen Mantel, den er zu Troas gelassen
mitbringen, und derart noch manche andre. Und indem er sie uns vorhält,
fragt er hämisch: „Sind diese Worte auch vom Geist eingegeben?” Und dann
schnell darauf: „So ist mithin nicht die ganze Bibel inspiriert.“ Und
dann gleich weiter: „Was ist vom Geist nun, was nicht?” Und darauf zum
Schluß: „Die Bibel ist ein loser Grund.“ Und in der Tat gelingt’s ihm je
und dann, mit solchen Gauklerkünsten auf Augenblicke wenigstens das
ganze Bibelhaus uns über dem Kopf ineinanderzureißen, daß uns alles
ungewiß und wankend wird, bis wir uns wieder besinnen können. Um das
Wort Gottes uns zu verdächtigen, schlägt er nicht selten auch den Weg
ein, daß er den einen und andern Ausspruch gerade dann blitzschnell uns
vor Augen rückt, wenn in unserm Leben eben etwas sich ereignet, welches
jene Sprüche zur Lüge zu machen scheint. Liegst du z.B. der Verzweiflung
nahe, in großen Nöten und bittern Prüfungsleiden, und bleibt die Hilfe
aus, so ist es vielleicht das Sprüchlein: „Wie sich ein Vater über seine
Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten,” an
das er dich erinnert, und nun fragt er spöttisch grinsend, wo doch der
Vater bleibe und sein Erbarmen und die gerühmte Hilfe, wo sie doch
stecke; und was sähe der Bösewicht lieber, als daß er die Seele dir mit
Zweifelmut, Mißglauben und Ungeduld besudeln könnte. Wenn du lange um
etwas gefleht und mit Gott gerungen hast, sei es um Brot für deine
hungernden Kinder, sei es um Rat in bittern Verlegenheiten, sei es um
ein wenig Linderung und Ruhe in deinen Schmerzen oder um ein Tröpflein
Trost in schweren Ängsten, und kannst du es nicht erhalten, gleich ist
der Teufel wieder da. „Sieh,“ spricht er, „steht’s nicht geschrieben:
,Alles, was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, wird er euch
geben?’ Nun, frommer Beter, hast du den Schoß bald voll von Gottes
Gaben?” So spöttelt der Verruchte, und fürwahr, so der Herr nicht seine
Hand hat über deinem Glauben, so wirst du diesen Feuerpfeilen
unverwundet nicht entrinnen können.
Die gefährlichste Art, in welcher der Teufel das Wort Gottes als Waffe
gegen uns handhaben kann, ist diese. Er reißt einzelne Aussprüche der
Schrift aus dem Zusammenhang heraus, und statt sie nach der Regel des
Glaubens zu deuten, gibt er sie abgerissen für sich, verdreht ihren Sinn
und sucht sie also den Leuten einzureden. Wenn nun irgendwo, so gilt es
hier, mit gleicher Waffe ihm zu begegnen und gleichfalls mit dem Schwert
des Wortes wider ihn den Streit zu führen. Spricht er: „Es steht
geschrieben: ,Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade viel
mächtiger geworden, darum laß die Zügel schießen, den Kessel
überkochen,“ so heiße es dagegen: „Und wiederum steht auch geschrieben :
,Sollen wir in der Sünde beharren, auf daß die Gnade desto mächtiger
werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde wollen leben, der wir
abgestorben sind?’” Ruft der Teufel: „Es steht geschrieben: ,So tue nun
nicht ich das Böse, sondern die Sünde, die in mir wohnt, darum beruhige
dich und sei nicht so mühselig um deiner Fehler willen,“ so heiße es
dawider: „Und wiederum steht auch geschrieben: ,Ich elender Mensch, wer
wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?’” Gottes Kinder seufzen
unter ihren Sünden. Spricht der Satan: „Es steht geschrieben: ,So liegt
es nun nicht an jemandes Rennen oder Laufen, daß er selig werde, sondern
an Gottes Erbarmen, drum bleib nur in der Welt und in dem Taumel, bis
Gott dich ruft,“ so heiße die Antwort: „Ich weiß es, aber wiederum steht
auch geschrieben: ,Schafft mit Furcht und Zittern, daß ihr selig werdet;
denn Gott ist’s, der in euch wirkt das Wollen und Vollbringen nach
seinem Wohlgefallen.’” Ruft der Verschlagene: „Es steht geschrieben:
,Gott sind alle seine Werke bewußt von der Welt her,’ darum laß ab zu
flehen und zu beten; dein Teil ist dir beschieden! Was du empfangen
sollst, empfängst du sicher,“ so heiße die Entgegnung: „Und wiederum
steht auch geschrieben: ,Bittet, so wird euch gegeben; denn wer da
bittet, der empfängt.’” Spricht der Drache: „Es steht geschrieben: ,Das
ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere
von allem, das er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwecke am
Jüngsten Tag, darum lebe, wie du kannst, und tu, was dein Herz gelüstet!
Was geht dich Mose an, du wirst bewahrt zur Seligkeit,“ so schreie du
dagegen: „Hinwiederum steht auch geschrieben: Meine Schafe hören meine
Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.’” Siehe, mein Bruder, so
wirst du den Teufel entwaffnen und in der Stärke deines Gottes einen
Triumph aus ihm machen und ihn zur Schau tragen öffentlich.
Das Zaubergesicht.
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Der Kampfplatz verwandelt sich. Mit Blitzesschnelle wird der Sohn Gottes
durch die Gewalt, die dem Satan über ihm gestattet war, von der Zinne
des Tempels wieder hinweggerückt und auf den Gipfel eines hohen Berges
hinübergezaubert. Doch nicht bloß dem Leib nach, auch geistlicherweise
sah er sich plötzlich wie auf eine schwindelnde Turmspitze gestellt, und
eine unendliche Aussicht voller Reiz und blendender Schönheit tat sich
vor seinen innern Augen auf, im Zauberspiegel eines wunderbaren
Gesichtes. Was begibt sich? Schnell, wie man eine Hand umdreht, treten
in der glänzendsten Beleuchtung alle Reiche der Welt in seinen
Gesichtskreis, und alle Herrlichkeit, Pracht, Lust und Zierde derselben
wird in den lockendsten Bildern und hinreißendsten Szenen an seinen
Augen vorübergeführt. Die Schranken des Raums und der Zeit weichen
zurück, das Entfernte tritt nahe, das Verschlossene tut sich auf, das
Verdeckte wird entschleiert, und zwar, wie Lukas sagt, in einem
Augenblick. Ein unerhörtes Gaukelspiel. Einem glänzenden Gemälde
vergleichbar, liegen die schönsten Gebiete der Erde vor ihm
ausgebreitet, und um ihn her das reizende Panorama ihrer prachtvollsten
Städte und herrlichsten Fürstensitze. Hier die stolze Roma, die
sieggewohnte Herrin der Welt und die Herrscherin über Hunderte von
Königen; dort die Würzberge des Orients und Persiens liebliche
Rosengärten; hier Ophir mit seinen reichen Goldgruben und
Demantschachten, dort Indien, das Wunderland, glühend im Farbenschmuck
eines unvergänglichen Lenzes, durchströmt von Milch- und Honigflüssen.
Doch nicht Reiche bloß und Städte, noch andre Dinge traten vor Jesu
Augen. Der Teufel zeigte ihm neben den Reichen der Welt auch der Welt
Herrlichkeit. Was diese Welt nur Reizendes und Lockendes hat, was die
Sinne vergnügt und entzückt, und was die Kinder dieser Welt ihr Paradies
und ihren Himmel nennen, das alles sieht er vor sich liegen. Hier
glänzende Lustschlösser, von den anmutigsten Gärten und Gefilden
umgeben, dort Wagen und Rosse, Hofstaat und Dienerschaften; hier
Galerien der Kunst und Tempel blendender Weisheit, dort Lorbeerkränze
des Ruhms und Denkmäler der Ehre; prächtige Gelage hier in goldenen
Prunkgemächern, dort festliches Gedränge unter bezaubernden Symphonien
und hinreißenden Musikchören; kurz alles, alles, was den Kindern dieser
Welt das Herz im Busen hüpfen, das Blut in den Adern sieden und die
Augen glühen läßt in Freude und Verlangen, das rauscht in den
anschaulichsten Bildern an seinen Blicken vorüber, und Gott weiß, was
alles die reinen Augen Jesu da haben sehen müssen. Kein Schauspiel der
Lust, kein sinnberauschend Bild wird der Satan vor ihm verschleiert
gelassen haben.
Dem ähnliches, was Jesus erfuhr auf der Spitze des hohen Berges,
erfahren auch wir zuweilen. Diejenigen namentlich unter unsern Brüdern,
die von Natur ein lebhaftes Temperament besitzen, ein leicht entzündetes
Gemüt und eine regsame Phantasie, werden ohne Zweifel von solchen
Zaubergesichten etwas nachzusagen wissen. Leute dieser Art pflegt der
Teufel am liebsten mit solchen Schlingen anzugehen, weil eben die
reizbare Natur derselben und ihre lebhafte Sinnlichkeit ihm schon den
gewissen Sieg zu versprechen scheinen; wenigstens gelingt es ihm, Leute
von dieser Gattung weit leichter als andre auf seine Zauberberge
hinaufzuflügeln. Zur Erreichung dieses Zweckes bedient er sich
gewöhnlich irgendeines äußern Mittels. Solche Mittel findet er z. B. im
Gebiet der schönen Künste, insofern dieselben in den Dienst der Welt und
der Sünde getreten sind, und da ist es bald ein anziehendes Gemälde,
bald eine reizende Poesie, bald ein süßes Getön oder eine bewegende
Musik, vermittels deren er sein magisches Wesen treibt.
So bedarf es oft nur etlicher Akkorde oder vereinzelter Töne, z. B.
einer Flöte, die aus der Entfernung in zarten Schwingungen kaum
vernehmbar in die Einsamkeit unsrer stillen Kammer Herüberschweben, und
die Bezauberung ist sofort geschehen. Wie auf ein „Werde"! der Allmacht
liegt urplötzlich in einem Augenblick ein ganzes Paradies voll
berauschender Glückseligkeit vor uns ausgebreitet, und wie durch den Riß
eines verdeckenden Vorhangs streicht unser Auge in ein irdisch
Himmelreich hinüber. Freuden unsrer Jugend, denen wir schon längst Valet
gegeben, treten uns mit einemmal wieder in den entzückendsten Bildern
nahe, und Genüsse, denen wir vielleicht seit Jahren schon durch die
Gnade gekreuzigt und abgestorben waren, erscheinen uns wieder in der
begehrenswertesten Gestalt im reizendsten Licht. Hier hangen Kränze
vergänglicher Ehre; aber wie sind sie so lieblich wieder, wie sind sie
lockend! Dort öffnen sich uns Tummelplätze weltlicher Geselligkeit und
eitler Unterhaltung; aber wie gefallen sie uns wieder, diese Zirkel, wie
fühlt das arme Herz sich wieder hingezogen! Hier erschließen sich vor
uns die leuchtenden Versammlungssäle der vornehmen Welt, erfüllt mit
Klang und Sang, mit Saitenspiel und Reigen, und dort durcheilt der Blick
die trügerischen Rosenauen weltlicher Kunst und süßer Dichterträume;
kurz alles, was Schönes und Köstliches die Welt nur hat, wie auf einen
Zauberschlag strahlt’s plötzlich in den lebendigsten Bildern, Szenen und
Gestalten in den Spiegel unsrer Phantasie hinein; und wie eitel es an
sich auch immer sei, wie nichtig und erbärmlich, es liegt ein Zauber
darauf, ein Farbenspiel, ein Schmuck und Schmelz, als sähe man wirklich
in ein Paradies hinüber, und das Meer der Sinnlichkeit, der Sehnsucht
und der Begierde beginnt im Anblick solcher reizenden Gesichte zu wogen
und zu wallen, als ob ein Sturm in seinen Tiefen wühlte. Siehe, in
solchen Augenblicken stehst du auf den hohen Zauberbergen, und der
Teufel zeigt dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit in einem
Augenblick.
Und eben darum ist’s um die weltliche Musik, wie sie sich heutzutage
gestaltet hat, ein so gefährlich Ding, weil der Teufel sie so gern und
glücklich zu benutzen weiß, um solche Augenblicks sinnlicher Berauschung
herbeizuführen. In den Opern und Arien, Symphonien und Konzerten dieser
Welt findet der Teufel ein mächtig Zaubermittel, um uns die nichtige
Erdenherrlichkeit zum Himmelreich zu verklären. Erfahrene Christen haben
es bekannt, daß sie, auf Augenblicke wenigstens, vermittelst solcher von
Gott gefallenen und vom Weltgeist eingegebenen Musik so mächtig und so
unwiderstehlich vom Teufel seien bezaubert worden, daß sie wie die
Trunkenen auf Augenblicke ihren Ausgang aus Ägypten hätten bedauern und
die Kinder dieser Welt, wenn auch nicht um ihre Trinkstuben und
Taumelkammern, doch um ihre feinern Genüsse und Freuden beneiden können.
Ja, nicht selten ist diese gewaltigste aller Künste einer von den
Fittichen, die uns durch Wirkung des Versuchers auf jene Zauberberge
flügeln, wo die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit vor den Augen
unsrer Phantasie in ein Verklärungslicht, in einen goldenen Duft und
Glanz sich hüllen, der alle Sinne in Traum, in Rausch und Taumel bringt
und der uns auf der Stelle überwältigen würde, wenn die allmächtige
Gnade, unsre Mutter, uns nicht mit ihrem Schild deckte.
Die satanische Zumutung.
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In demselben Augenblick, da im Blendspiegel jenes Zaubergesichts die
Reiche dieser Welt vor Jesu Augen standen, wirft sich der Teufel in die
Brust und spricht, die Haltung schon verlierend und trotz aller
Affektionen von Majestät und Würde schon aus der Rolle fallend und sich
selbst verratend: „Dieses alles ist mein; ich gebe es, welchem ich will.
Dir will ich’s geben, so du niederfällst und mich anbetest.“ „Dieses
alles ist mein!” O wie hört sich das so schrecklich an! Und leider hier
hat der Lügenvater wahr geredet. Durch einen heiligen Rechtsspruch
Gottes ist sie sein geworden, die Welt, für welche einst der große
Hohepriester nicht beten wollte. Er ist ihr Fürst, ihr Haupt, ihr Gott
und Großherr. Das größte Volk auf Erden ist sein, und die meisten Seelen
ziehen an seinem Joch. Die meisten Länder zahlen ihm den Zins, und auf
den Mauern der meisten Städte wehen seine schwarzen Fahnen. Wer kann sie
zählen, die Hunderte von Millionen, deren Seelen er in tausendfachen
Ketten und Banden der Sünde und Finsternis und in zahllosen geistlichen
Kerkern und Klausen, sei es des Islams oder Heidentums, der kräftigen
Irrtümer des Talmud oder der Satzungen der sieben Hügel, des
himmelstürmenden Rationalismus oder der Pan- oder Atheisterei,
verschlossen, verrammelt und gefangenhält. Ja, ohne prahlerische
Anmaßung darf er es sagen: „Es ist alles mein!“ Denn das wenige, das
nicht sein ist, sondern Gottes, diese Hütte in den Kürbisgärten, dieses
Würmlein Jakob, dieser verachtete Haufe Israel, verliert sich wie ein
Nichts im Riesenstaat des gefallenen Engelfürsten und verschwimmt in
demselben wie ein Tropfen im unermeßlichen Ozean. Und was wäre in der
Welt, das der Teufel nicht zur Erweiterung und Befestigung seines
Reiches gewaltsam in Beschlag genommen und seinen satanischen Plänen
dienstbar gemacht hätte, zumal in diesen unsern Tagen? Sind nicht sein
die meisten Kanzeln und Katheder, sein die Zeitungen und Tagesblätter,
sein die Gesellschaften, sein die Wissenschaften und schönen Künste? Das
alles hat er ja allmählich in den Dienst seiner Sache hineinzuziehen
gewußt. Wer handhabt die Poesie in jener Flut von Nomanen und Komödien,
die mit Tausenden von Lügen und gottlosen Gedanken die Welt
überschwemmen? Wer spielt und musiziert in jenen sinnlichen Opern und
leichtfertigen Arien, in welchen die Tonkunst, die den Namen des Herrn
preisen sollte, als eine gefährliche Seelenmörderin auftritt und ein
raffiniertes Gift in die Herzen haucht? Wer hat sein Lager in den
hochfahrenden Lehrgebäuden der neuern Philosophien und führt von diesen
Schanzen und Bastionen aus die verzweifelt bösen Streiche wider das
Evangelium des Friedens? Wer hat ausgeheckt und auf den Markt gebracht
die Modereligion der heutigen Zeit, dies süße, aus weichlicher Ästhetik
und schlaffer, fauler, von Gott entfremdeter Moral gemischte
Zaubertränklein, von dem die Leute in einen Schlummer fallen, aus
welchem erst die Donner des Gerichts zu spät sie wecken werden? Ist es
nicht der Lügenvater, die alte Schlange, der Drache aus dem Abgrund? Und
verwundere sich nur keiner, daß der Teufel sogar von einem Geben
spricht, welches in seiner Macht stehe: „Dies alles will ich dir geben,
so du niederfällst und mich anbetest.” Es gibt auch satanische
Schenkungen, wie es göttliche gibt, und es wimmelt die Welt von
Menschen, die für ihre Genüsse, Schätze, Ehren, Titel und Würden dem
Teufel den Dank schuldig sind. Ja, auch er hat seinen Sold und seine
Prämien für die, die seiner Fahne folgen, und weiß ihren Eifer in seinen
Diensten wohl zu vergelten in mancherlei Weise, und nicht selten wird es
ihm von Gott gestattet, verworfene Menschen so überschwenglich mit der
Lust und Herrlichkeit der Welt zu überschütten und sie dergestalt auf
den Fettweiden des fleischlichen Genusses herumzuführen, daß endlich
selbst die letzte Spur der Menschlichkeit an diesen Gefäßen des Zorns
sich verwischt und sie, wie das Vieh, zur Hölle fahren.
„Dieses alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest:"
so der Versucher zu unserm Herrn. Man denke, der Sohn des lebendigen
Gottes soll anbetend der alten Schlange seine Knie beugen! Das ist die
frechste und entsetzlichste Zumutung, die je in der Welt einem Wesen
gemacht worden ist. Freilich erscheint sie als ein völliges aus der
Rolle Fallen und mit der Verschlagenheit und List jenes größten
Zauberers und Tausendkünstlers und eines so gigantischen Genies, wie der
Satan ist, kaum vereinbar. Aber man veranschauliche sich die mißliche,
fatale Lage, in welcher sich der Satan in jenem Augenblick befand, und
sein unverschämtes, verfluchtes Ansinnen wird uns nicht länger befremden
können. Die Schleier sind am fallen, und der Teufel ahnt mit steigender
Gewißheit, wen er vor sich habe. Die glänzenden Triumphe, die der Herr
bis dahin über ihn und seine feinsten Künste davongetragen, lassen ihm
kaum mehr einen leisen Zweifel übrig, daß Jesus der Christ sei. Auf das
äußerste verstimmt durch die mißglückten Operationen gegen diesen großen
Widersacher seines Reiches und nicht minder bestürzt über die Gefahren,
die seiner Herrschaft drohen, sinnt er mit Haß und Ungestüm auf einen
letzten entscheidenden Streich; aber schon liegt die Reflexion in den
Fesseln des Affekts gefangen, und alle Fassung und Besonnenheit ist in
den Feuerwogen verzweiflungsvoller Wut, die sich wild und gräßlich durch
seine Seele wälzen, untergegangen.
Zwar treten ihm jetzt erst, nachdem er über die Person seines Gegners
gewiß geworden, der ganze Ernst und die verhängnisvolle Bedeutung des
Kampfes ins Bewußtsein, und es ist ihm nicht verborgen, wie einer von
ihnen fallen müsse. „Du,“ denkt er, „oder ich; entweder ich fange dich,
oder ich bin gefangen.” Demunerachtet aber ist sein letzter Anfall,
wieviel Kunst und Macht er auch entwickle, von allen der ungeschickteste
und wie der Sturm eines verzweifelnden Kämpfers, der seine Sache
verloren gibt und, das Äußerste wagend, wild und blindlings in die
Glieder der Feinde hineinbricht und sich selbst in ihre Schwerter
stürzt. Der letzte Streich, den der Teufel wider Jesus führte, war ein
Verzweiflungsversuch, bei welchem es im Grund weniger darauf abgesehen
war, den Sohn Gottes zu überlisten und aus dem Feld zu schlagen, wozu ja
nicht viel Hoffnung mehr übrig war, als zu guter Letzt ihm noch eine
empfindliche Schmähung und Beleidigung zuzufügen und ihm wie mit einem
verächtlichen Fußtritt zu verstehen zu geben, er müsse nicht denken, daß
es ihm gelungen sei, seinem Feind den Nacken zu beugen. In solcher
verzweifelten Gemütsverfassung und vor Ingrimm schäumend, beginnt der
Teufel sein magisches Gaukelspiel, rückt seinem Gegner seinen
Zauberspiegel vor die Augen, eröffnet ihm eine Aussicht nach der andern
in die reizendsten Lustgebiete der Welt und ihre Herrlichkeit und
schreit ihn an mit grinsendem Hohn und wilder, teuflischer Verachtung:
„Sieh da, das alles dort, den ganzen Schmaus, die lustigen Sachen alle,
die dir ja munden werden, die sollst du haben, wenn du niederfällst und
mich anbetest. Auf denn! Erraffe die süße Beutel Nieder in den Staub und
huldige deinem Herrn und Monarchen!"
Es ließe sich allerdings auch annehmen, der Teufel habe aus dem Umstand,
daß Jesus die von ihm begehrten Wunderbeweise verweigerte, den Schluß
gezogen, er sei der Gottmensch nicht, sondern nur irgendein großer
Heiliger, aber immer doch ein Mensch, dem er als solchem wohl schon ein
mehreres zumuten und unverlarvter, gröber und derber kommen dürfte.
Indessen scheint die oben angedeutete Erklärung näher zu liegen. Die
satanische Zumutung war, wie gesagt, ein Akt der Verzweiflung und mehr
nur ein Ausbruch lästernder Wut und teuflischen Hohns als eigentliche
Versuchung. Auch die Gläubigen haben oft vom Teufel ganz dasselbe zu
erleiden, was ihr Meister erlitt in der Wüste, indem der Arge auch sie
mit den greulichsten, gottlosesten Zumutungen verfolgt und ihnen
Gedanken durch die Seele jagt, so lästerlich und abscheulich, daß sie
schaudernd davor zusammenbeben. Aber nur getrost und unverzagt, ihr
angefochtenen Seelen! Daß der Teufel mit solchen Faustschlägen und
Fußtritten euch zusetzt, geschieht aus purem Verdruß und Ärger, daß es
ihm nicht gelingen will, euch zu verschlingen. Seht diese Anfechtungen
an als das Wutschnauben eines ohnmächtigen Feindes, der, weil er mit
Schwert und Schlinge euch nicht beikommen kann, mit Kot und Unflat nach
euch wirft, um euch wenigstens zu ärgern und, weil es in einer andern
Art nicht gehen will, in dieser Weise seinen Ingrimm an euch zu kühlen!
Des Kampfes Ausgang.
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Kaum hatte Jesus die lästernde Zumutung vernommen, kaum einen Blick in
das Schauspiel der Herrlichkeit und Lust getan, die der Teufel ihm
anzubieten die Frechheit hatte, da ist es ihm völlig klar, mit wem er es
zu tun habe. „Das sind deine Güter, deine Reiche,“ denkt er, „und
Anbetung forderst du? Du bist verraten, schlauer Geist; die Larve ist
gefallen, ich kenne dich.” Mit Abscheu und Verachtung wendet sich die
heilige Seele des unbefleckten Hohenpriesters hinweg von den Bildern der
Eitelkeit und Lust, die der Satan ihm vorgezaubert. Er greift zum
ehernen Schild des Wortes Gottes, an welchem alle Feuerpfeile des
Bösewichts auslöschen, und spricht mit der Majestät des Eingeborenen,
dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden: „Hebe dich weg von
mir, Satan! Denn es steht geschrieben: ,Du sollst anbeten den Herrn,
deinen Gott, und ihm allein dienen!" Da wagte der Teufel nicht zum
zweitenmal von Anbetung zu sprechen; er war geschlagen, der Kampf
geendet und das Lamm Gottes ohne Fehl, siegreich und mit Triumph
hervorgegangen. Im Gehorsam des Glaubens, mit dem Geistesschwert des
geschriebenen Worts hatte er den Drachen völlig in den Staub gelegt.
Die Anfechtung, die Jesus hier so siegreich bestand, kommt nicht selten
auch im Leben seiner Kinder vor. Wir redeten vorhin davon, wie der
Teufel auch uns zuweilen in seinem Zauberspiegel die Reiche dieser Welt
und ihre Herrlichkeit in einem Augenblick zeigen könne. Ach ja, auch die
Heiligsten auf Erden werden es bekennen müssen, daß auch im Leben der
Kinder Gottes mitunter wieder Stunden und Augenblicke kommen können, da
tausenderlei Freuden und Genüsse, Güter und Verhältnisse, denen sie
durch Gottes Gnade schon längst sich völlig abgestorben glaubten,
plötzlich wieder, vom reizendsten Zauberlicht umflossen, den Augen ihrer
Phantasie sich darstellen. Da wird’s denn wieder ungestüm und stürmisch
auf dem Meer der Sinne und Begierden, und der Teufel läßt alsdann nichts
unversucht, um in diesen Fluten die arme Seele vollends zu ersäufen. In
solchen Augenblicken heißt’s dann auch zu uns rasch, unversehens, ehe
wir uns besinnen können: „Dieses alles will ich dir geben, so du
niederfällst und mich anbetest.“ Und siehe, nur um ein kleines ist’s da
oft zu tun, um alle jene Herrlichkeiten und goldenen Berge zu gewinnen,
nur um ein gering Vergehen, das vielleicht niemand je erfährt, nur um
einen schnellen Fußfall vor dem Argen, nur um eine flüchtige Huldigung,
und alles ist unser. Und ach, ihr Lieben, David und Salomo sind nicht
die einzigen unter den Gotteskindern geblieben die diesen Fußfall taten,
um einmal wieder aus dem Taumelkelch der Weltlust einen Trunk zu tun.
Doch in welcher Weise dieser Fußfall auch geschehen möge, wir haben
Mitleid mit diesen unterliegenden Brüdern und verachten sie nicht. Nein,
wir verachten sie nicht; denn wir kennen unser Herz, wir wissen, was wir
sind wie der Arge einem so schön die Welt vor Augen malen und ihre
Eitelkeiten so reizend färben kann. Wir wissen das und seufzen alle
Stunden: „Herr, führe uns nicht in Versuchung!”
Freilich, zu verkennen ist der Arge nicht, wenn er mit solchen
Zaubergesichten und unverschämten Zumutungen wider uns anrückt. Die
Genüsse und Schätze, die er lobrednerisch uns anbietet, die Mittel und
Wege, die er zur Erlangung derselben uns vorschlägt, verraten ihn. In
Versuchungen dieser Art kommt er nicht in Lichtengelsgestalt, sondern
ohne Maske und unverkleidet, plump und offen, keck und derbe. Da weiß
man schnell, mit wem man es zu tun hat, und das macht den Streit schon
leichter. Unverwundet, wie Jesus, werden wir den Kampfplatz freilich
wohl nie verlassen; ohne alle Regung einer sündlichen Lüsternheit werden
wir wohl selten den Blick von jenen reizenden Zauberbildern
zurückwenden. Aber wohl uns, wenn wir nur entrinnen, ehe die Lust
empfängt und gebiert, und ungeschlagen und unzertreten den Plan
verlassen!
Die Waffe, mit welcher Jesus den letzten Sturm des Versuchers ohne Mühe
zurückschlug, sei in ähnlichen Fällen auch die unsre: „Es steht
geschrieben: ,Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein
dienen!" An diesem Wort, wo es als ein Wort Gottes umfaßt und im Glauben
wider den Bösewicht ausgesprochen wird, werden seine stärksten Lanzen
zersplittern wie Halme, und sooft er diesen Panzer um unsre Brust wird
blitzen sehen, wird ihm sofort die Hoffnung schwinden, auch nur zur
geringsten Huldigung und zum flüchtigsten Fußfall uns bewegen zu können.
„Da verließ ihn der Teufel, und siehe, es traten Engel zu ihm und
dienten ihm! Das war der endliche Ausgang des großen, verhängnisvollen
Kampfes; und fürwahr, wohl nie mochte der Teufel in unglückseligerer
Stimmung einen Kampfplatz geräumt, wohl nie mit so zerrissener und
ergrimmter Seele einen Gegner verlassen haben, als er damals den
furchtbarsten Widersacher seines Reiches verlassen mußte. So gar aufs
Haupt geschlagen und mit solcher Schande bedeckt, die Waffen strecken zu
müssen, das war ihm ebenso unerträglich wie ungewohnt. Wie eine finstere
Wolke der Nacht, die der Sturmwind treibt, stürzt er davon, die Augen
feurig rollend und verzweifelnd mit den Zähnen knirschend, und zu den
Bergen und Hügeln hätte er schreien mögen, daß sie über ihn herfielen
und ihn bedeckten vor dem Angesicht der Höhe und des Abgrunds, daß er
nur nicht vernehme den Triumph der Engel über ihn, noch hören möchte das
dumpfe Gemurr und Klagegeheul der höllischen Geister über solche Schmach
und Niederlage.
Unserm Herrn aber ist wohl. O wie wohl mag ihm gewesen sein, da er, nach
einer vierzigtägigen, schauerlichen Verlassenheit nicht in der Wüste
bloß, nein mitten in der Obrigkeit der Finsternis (denn 40 Tage, sagt
Lukas, ward er versucht) nun plötzlich wieder in sein Element
zurückversetzt, unter den lieben Gottesengeln sich wiederfand, die
gekommen waren, dem großen Überwinder zu huldigen und zu dienen! Da war
erfüllt, was einst im prophetischen Geist der sterbende Jakob ausrief:
„Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, durch große
Siege. Er hat niedergekniet und sich gelagert wie ein Löwe und wie eine
Löwin; wer will sich wider ihn auflehnen?“ Diese Ruhe war indes noch
nicht des Kampfes Ende, sondern nur ein kurzer Waffenstillstand. „Der
Satan,” bemerkt Lukas, „wich von ihm eine Zeitlang." Es währte nicht
lang, so stand er wieder in voller Rüstung gegen Jesus auf dem Plan, und
er hat ihn verfolgt mit seinen Schlingen und Geschossen, bis ihn der
große Simson auf Golgatha mit seinem eigenen Fall erschlug und ihm für
ewig das Zepter aus den Händen riß. Als das Blut des Lämmleins Gottes
das Holz des Fluches färbte, da war der Schlange völlig erst der Kopf
zertreten.
Auch unser Leben, ihr lieben Kreuzgenossen, es wird ein Streiten sein
bis an das Ende. An Rasttagen und Feierstunden wird es auch uns nicht
fehlen in der Wüste; aber der volle, ununterbrochene Sabbat harrt unsrer
jenseits. Solang wir in diesen Pilgerhütten wohnen, wird der Teufel sein
Schwert nicht in die Scheide stecken und der brüllende Löwe nicht
aufhören, umherzugehen und zu suchen, welchen er verschlinge. Und wenn
er es auch aufgeben müßte, uns zu überwältigen, so wird er’s darum nicht
unterlassen, seinen Ingrimm an uns zu kühlen und durch Fußtritte und
Faustschläge mancherlei Art seinen Haß und seine Verachtung uns fühlbar
zu machen. Wir aber fürchten uns nicht. „Gott sei gedankt,“ frohlocken
wir mit Paulus, „der uns allezeit Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus
Christus.” Die Siege unsers Bürgen sind alle unser durch den Glauben.
Wir haben schon gesiegt vor dem Kampf; wir triumphieren schon, wenn auch
das Feld noch stäubt vom Streit und die Feuerpfeile zu Tausenden noch
unser Haupt umschwirren, und auch im Unterliegen sind und bleiben wir
die Sieger und überwinden weit in dem, der uns geliebt hat. Glückselige
Wahrheit, teuerwerter Glaube! Wo dieser Glaube lebt, da kann’s auch an
Mut nicht fehlen, wenn die Schlachtdrommeten schmettern. Und sänke man
im Streit, in diesem Glauben sind die Knie bald wieder aufgerichtet. „O
wohl dir denn, Israel, wer ist dir gleich? O Volk, das du durch den
Herrn selig wirst, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges
ist. Deinen Feinden wird’s fehlen an dir; du aber wirst auf ihren Höhen
einhertreten."