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author: Margarete Lenk
generator: pandoc
title: Der kleine Lumpensammler
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Der kleine Lumpensammler {#der-kleine-lumpensammler .unnumbered}
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„Erzählen, erzählen! Bitte erzählen!“ Leuchtende Augen sind auf mich
gerichtet, und helle Kinderstimmen rufen es mir zu. — „Was soll ich denn
erzählen?“ — „Aus deinem Leben,“ ertönt die Antwort, „etwas, das du
selbst gesehen und gehört hast, etwas, das ganz wahr ist.“
Es war einmal ein kleiner Knabe, der hieß Willi. Er wohnte in der großen
Stadt New York, wo es so viele prachtvolle Häuser, reiche Kaufläden und
herrliche Lustgärten gibt. Willi hatte aber von dem allen noch nichts
gesehen, denn er wohnte in einem alten häßlichen Haus, das in einer
engen Gasse stand. Ganz unten im Keller war eine große, große Stube mit
schwarzen zerkratzten Wänden und schmutzigem Flur. Möbel waren fast gar
nicht darin, nur ein wackliger Tisch und ein paar Bänke, und rings an
den Wänden eine Menge ärmliche Strohlager und Matratzen mit zerrissenen
Decken darüber. Da wohnten viele arme Leute zusammen; sie gingen
frühzeitig fort, um irgendwo ihr Brot zu verdienen, und kamen abends
zurück, um sich todmüde zur Ruhe zu legen.
Eins der Strohlager gehörte Willis Tante, daneben stand eine alte Kiste
mit einigen Kleidern darin; dieser Winkel war seine Heimat. Vater und
Mutter hatte er nie gekannt, er war immer bei der Tante gewesen. Früh am
Morgen gab sie ihm ein Stück Brot und hing ihm einen Sack über die
Schulter, dann ging sie fort, er wußte nicht wohin. Er aber lief den
ganzen Tag durch die Straßen und las alles auf, was er fand: Lumpen,
Papierschnitzel, Holzstückchen, Knochen und Kohlen, auch Abfälle von
Gemüse und Obst. Das steckte er alles in seinen Sack, und abends
schüttete es die Tante aus und sortierte es. Wenn er viel gefunden
hatte, gab sie ihm wieder zu essen; war es aber zu wenig, so mußte er
hungrig, oft unter Scheltworten und Schlägen, in sein Strohlager
kriechen. Hungerte ihn des Tages, so bettelte er manchmal in einem
Bäckerladen oder in einer Marktbude; aber er tat es nicht gern, denn er
war scheu und furchtsam. Nur im kältesten Winter durfte er manchmal zu
Hause bleiben; dann ward ihm aber die Zeit sehr lang, denn er hatte noch
nie ein Spielzeug oder ein Buch gehabt. Das letztere hätte ihm freilich
auch nichts genützt, denn obgleich er schon acht Jahre alt war, kannte
er noch keinen Buchstaben; niemand hatte ihn jemals das Geringste
gelehrt. Er war sehr klein und schwächlich, hatte aber große, klare,
blaue Augen und ein hübsches Gesichtchen; — nur war es fast mit Schmutz
überzogen, und die schönen blonden Haare hingen wirr und ungekämmt über
seine Stirn. Solange er sehr klein war, freute er sich, wenn sein Sack
bis abends voll wurde, und die Tante ihm ein recht großes Stück Brot
gab, manchmal sogar Sirup darauf und einen Trunk Bier dazu. Dann legte
er sich zum Schlafen und dachte an weiter nichts. Seit einiger Zeit aber
war es anders geworden. Er sah auf seinen Wanderungen so vieles, was er
nicht verstand; das weckte allerlei Gedanken in seinem armen kleinen
Kopf. Er sah sauber gekleidete Kinder an der Hand der Eltern
einhergehen, und wunderte sich, daß er immer so allein sein mußte, immer
zerlumpt und schmutzig. Er sah die Schrift auf den Türschildern, er
sammelte viele, viele bedruckte Papiere und hätte so gerne gewußt, was
die kleinen seltsamen Zeichen darauf zu bedeuten hatten. Oft, wenn er
ermüdet im Schatten eines Torwegs oder unter einem Baum an der Straße
ausruhte, sah er zum Himmel empor. Wie hell schien die Sonne, wie heiß
brannte sie! Wer mochte dies große Licht nur so hoch oben angezündet
haben? Und der Mond und die Sterne, wo kamen die wohl her? Er liebte sie
so sehr, denn wenn sie kamen, war ja der mühevolle Tag vorbei und er
durfte bald schlafen gehen. Dann kam immer wieder ein Tag, den sie
Sonntag nannten, und doch sah er da die Sonne am wenigsten, denn er
durfte nicht mit seinem Sack auf die Straße. Es war sein schlimmster
Tag, denn die Tante ließ ihn dann oft ganz allein und vergaß sogar
manchmal, ihm Brot dazulassen. Dann lag er den ganzen Tag auf seinem
elenden Bett und schlief, soviel er konnte. Manchmal stand das Fenster
der Kellerstube offen, dann hörte er von ferne die Glocken läuten, und
hätte gar so gerne gewußt, was das bedeuten solle. Einmal hatte er die
Tante gefragt, was doch der Sonntag sei, sie hatte ihm aber geantwortet,
das gehe ihn nichts an; er solle nur seinen Sack vollsammeln und sich
sonst um nichts kümmern. Auch die rohen Männer und Frauen, die mit in
der Stube wohnten, konnte er nicht fragen; sie lachten ihn ja nur aus
und stießen ihn herum, denn er war überall im Wege.
An einem schönen Sommermorgen lenkte Willi seine Schritte einem großen
Markte zu, wo er immer am meisten fand, was in seinen Sack paßte. Es war
nicht ein Marktplatz wie bei uns, sondern eine weite Halle, worin die
Fleischer und Fischhändler ihre Waren aufboten. Ringsherum waren die
offenen Verkaufsstände der Obst- und Gemüsehändler. Da fiel für Willis
hungrigen Magen oft etwas ab, denn manche Birne, manche Rübe oder Gurke
wurde weggeworfen, die er noch mit Begierde verzehrte. Einmal hatte ihm
sogar ein Fleischer ein warmes Würstchen geschenkt; das war das Beste,
was er jemals gegessen hatte. Heute ging es besonders lebhaft zu, denn
es war die Zeit der Pfirsichernte, und viele hundert Körbe voll der
köstlichen Früchte wurden abgeladen und zum Verkauf geordnet. Ein
ärmlich, aber sauber gekleidetes Mädchen von etwa zwölf Jahren bahnte
sich den Weg durch das Gedränge. Sie trug vor sich einen flachen Korb,
der an einem Bande um ihren Hals hing. Darin waren allerlei Sachen, die
sie auf den Straßen zum Verkauf aufbot: Stecknadeln, Zwirn und Band,
kleine Kämme, bunte Seife und viele kleine Schachteln mit Pomade und
Stiefelwichse. Da kam ein Mann über den Weg, schwer beladen mit
Pfirsichkörben; er stieß so heftig gegen die Kleine, daß sie samt ihrem
Korbe zu Boden stürzte. Schnell raffte sie sich wieder auf, ohne eine
große Beule an der Stirn zu beachten, und bemühte sich, ihre Schätze
eilig wieder einzusammeln, ehe sie unter den Füßen der Vorübergehenden
zertreten wurden. Da kam eben Willi mit seinem Säckchen vorbei. Er sah
des Mädchens Not, und weil er selbst oft weinen mußte, hatte er Mitleid
mit den Tränen, die über ihre Wangen flossen. Ohne ein Wort zu sagen,
bückte er sich hierhin und dorthin, kroch unter einen Wagen, um die
Schachteln aufzusuchen, die dorthin gerollt waren, und ruhte nicht, bis
das letzte Stück wieder im Korbe geborgen war.
„O du guter Junge“, rief die Kleine erfreut, „wie schön hast du mir
geholfen! Komm nur aus dem Gedränge, vielleicht hab’ ich was für dich.“
Damit zog sie Willi über die Straße, setzte sich erschöpft auf die
Stufen vor einer Haustür und ordnete ihr kleines Warenlager. „Sieh“,
sagte sie, „nun ist alles wieder gut, nur zwei Kämme sind zertreten. Nun
will ich auch mein Frühstück mit dir teilen.“ Sie zog ein Weißbrötchen
aus der Tasche, brach es mitten durch und reichte Willi die Hälfte. Er
sah sie verwundert an und verzehrte schweigend seinen Anteil. „Wie heißt
du?“ fragte das Mädchen. „Willi.“ „Hast du nicht noch einen Namen?“
„Nein.“ „Was hast du da in deinem Säckchen?“ Er öffnete es und zeigte
den wenig appetitlichen Inhalt. „Ich habe dich schon manchmal laufen
sehen“, fuhr die Kleine fort, „und du dauerst mich so, du siehst so blaß
und hungrig aus. Willst du nicht ein bißchen mit mir gehen? Dann sind
wir beide nicht so allein!“ Willi nickte, hob sein Säckchen auf und
trabte neben seiner neuen Freundin her.
Emma, so hieß die Kleine, war ein munteres Mädchen und hatte scharfe
Augen, sah daher auch manches am Wege liegen, was dem kleinen Träumer
entging. Schneller als sonst füllte sich das Säckchen, und der Knabe
wurde allmählich etwas zutraulicher. Doch war er nicht gewöhnt, viel zu
sprechen, und antwortete immer nur kurz auf Emmas neugierige Fragen.
Diese dagegen war froh, einen Begleiter zu haben. Sie erzählte, daß sie
auch keine Eltern mehr habe; sie wohne bei der Großmutter, die fast ganz
blind sei, aber gar gut und freundlich. „Wir wohnen aber nicht mit so
vielen Leuten zusammen wie du“, sagte sie. „Wir haben eine hübsche Stube
für uns; es steht ein Bett darin, ein Tisch mit einer roten Decke, drei
ganze Stühle und ein zerbrochener, und eine schöne Kleiderkiste mit
gelben Blumen bemalt, die hat Großmutter noch aus Deutschland
mitgebracht. Großmutter strickt immer bunte Kinderstrümpfchen; wenn sie
sechs Paar fertig hat, trag ich sie in den Laden an der Ecke und bekomme
Geld dafür. Dann essen wir allemal eine Bratwurst zu Abend, und mein
Brot wird am andern Morgen mit dem Fett gestrichen. Das nächste Mal
bring ich dir ein Stück davon mit. Halt, dort geht eine freundliche
Frau, die kauft mir gewiß etwas ab!“
So verging der Vormittag unter Plaudern, Lumpensammeln und
Warenanbieten, und als die Uhr an der Markthalle 12 schlug, klimperte
Emma vergnügt mit einer Anzahl kleiner Münzen in ihrer Tasche. „Ich habe
gut verkauft“, sagte sie, „da darf ich auch Kaffee trinken. Wohin gehst
du zum Mittagessen?“ Willi sah sie verwundert an, griff in sein Säckchen
und zog zwei Rüben heraus, die er eben gefunden hatte. „Die kann ich
essen!“ sagte er kurz. „Armer Junge, sie sind ja halb verfault! Komm nur
mit, du sollst heute bei mir zu Gaste sein.“
Sie zog ihn eilig mit sich fort in eine enge Nebengasse und trat in
einen kleinen düstern Laden, der die Aufschrift trug: „Heißer Kaffee und
Brot für 5 Cents.“ Auf den Bänken längs der Wände saß schon eine Anzahl
Kinder und Frauen, die ähnlichen Geschäften nachgingen als Willi und
Emma. Sie hatten alle die hungrigen Augen auf die Hintertür gerichtet.
Diese öffnete sich, und eine dicke, nicht allzu saubere Negerfrau trat
herein, eine ungeheure blecherne Kaffeekanne tragend, aus der eine hohe
Dampfwolke emporstieg; ihr folgte ein schwarzer Knabe mit einem Turm von
großen Brotschnitten. Auf dem Ladentisch stand eine lange Reihe
blecherner Henkeltöpfchen, die aus der Kanne gefüllt wurden. Der Knabe
legte auf jedes derselben eine Brotschnitte, und das Mittagessen war
angerichtet; doch durfte niemand zugreifen, der nicht vorher sein
Fünfcentstück in ein bereitstehendes Becken geworfen hatte. Emma wartete
bis zuletzt, dann zupfte sie zutraulich die Negerin am Ärmel: „Tante
Dina, hast du nicht noch ein Töpfchen übrig? Ich habe heute einen Gast
mitgebracht; sieh nur, den armen blassen Jungen! Du kannst Wasser an
meinen Kaffee gießen, daß es mehr wird.“ Prüfend schaute die Negerin auf
den kleinen Eindringling, füllte dann noch ein leeres Töpfchen, und
reichte es ihm mit dem größten der übrigen Brotstücken hin. „Gott soll
mich bewahren“, sagte sie, die Hände emporhebend, „daß ich dies Sein
armes Kind15 lein von meiner Schwelle jage! Ich könnte nie mehr ein
fröhliches Hosianna singen, wenn ich es täte.“
Bald war die Mahlzeit beendet, und die Gäste verließen den Laden. „Sage
danke zu der Frau!“ flüsterte Emma in Willis Ohr. Er zögerte einen
Augenblick, dann faßte er Mut, legte sein schmutziges Händchen in die
große schwarze Hand und sprach vielleicht zum erstenmal in seinem Leben
das Wort aus, das andern Kindern so geläufig ist.
„Nun kann ich nicht mehr bei dir bleiben“, sagte Emma, „ich muß nun in
die Häuser gehen, jeden Tag in eine andere Straße. Freitag früh bin ich
wieder auf dem Markt.“ „Wann ist Freitag?“ fragte Willi. „Weißt du das
nicht? Du mußt dreimal schlafen, dann ist Freitag. Dann wollen wir uns
hier an dieser Ecke treffen.“
Von diesem Tage an war Willis Leben nicht mehr so ganz öde und freudlos.
Er freute sich von einem Dienstag und Freitag zum andern, wo er den
Vormittag mit seiner kleinen Beschützerin verbringen konnte. Bald
verband eine innige Liebe die beiden Kinder, und Emmas freundliches
Wesen öffnete mehr und mehr das Herz des kleinen verlassenen Knaben.
Auch der warme Kaffee, den er jedesmal bei Tante Dina bekam, trug das
Seine dazu bei. Auf Emmas Rat wusch er sich jeden Morgen Gesicht und
Hände an einem Brunnen; sie schenkte ihm einen der zertretenen Kämme,
schnitt ihm selbst die überflüssige Menge blonder Locken ab und lehrte
ihn das übrige anständig ordnen. Besser kleiden konnte sie ihn freilich
nicht, aber sie zog die größten Löcher an seinem Jäckchen zu und schnitt
die Höschen ab, die ihm viel zu lang waren und in Lumpen um die nackten
Füße hingen.
Gern hätte er sie auch zur Vertrauten der vielen Fragen gemacht, die in
seinem Kopfe auftauchten, aber er konnte nicht recht dazu kommen. Em17
ma war immer so lustig und wußte viel zu erzählen, blieb auch gern an
den Ladenfenstern stehen, um die hübschen Sachen zu betrachten. Dazu war
immer ein so arger Lärm auf den Straßen, daß man ganz laut sprechen
mußte, um einander zu verstehen, und er konnte doch seine innersten
Gedanken nicht herausschreien. Aber eins tat Emma: sie lehrte ihn die
seltsamen Zeichen kennen, die überall zu sehen waren, denn sie war
wunderbar gescheit, sie konnte lesen! In kurzer Zeit kannte er alle
Buchstaben an den Ladenschildern, ja, er brachte es sogar so weit, daß
er die Worte „Kaffee und Brot“ an Dinas Laden zusammensetzen konnte.
Eines Tages ruhten die Kinder ein wenig auf dem Eckstein einer breiten
Straße. Ein Straßenbahnwagen hielt eben dort, und zierlich gekleidete
Kinder stiegen mit ihren Eltern hinein. „Wo fahren sie hin?“ fragte
Willi. „Sie werden wohl in einen Park fahren.“ „Was ist das, ein Park?“
„Das ist ein schöner großer Gar18 ten mit Bäumen, Gras und Blumen. Ein
Springbrunnen ist auch dort und ein großer Teich mit Schwänen.
Es gibt viele Parks in der Stadt. Vor ein paar Jahren, als die
Großmutter noch sehen konnte, bin ich auch einmal in einem gewesen, der
nicht so sehr weit von hier ist. O, es ist herrlich dort!“ „Können wir
nicht hingehen?“. „Nein, zum Gehen ist’s zu weit; man muß fahren, und
das kostet Geld. Wir haben ja auch keine Zeit.“
Aber Willi hätte gar so gern den Park gesehen und fing immer wieder an,
davon zu reden. Er hatte noch nie andere Bäume gesehen als die wenigen,
die an der Straße standen und meist dick mit Staub bedeckt waren. Und
wie gern hätte er gesehen, wo die Blumen wachsen! Er kannte sie nur in
den kleinen Töpfchen, die auf dem Markt verkauft wurden, und er liebte
sie so! Einmal hatte ihm die Blumenfrau eine halbverwelkte Rose
geschenkt, weil er so sehnsüchtig danach schaute. Die hatte er den
ganzen Tag vorn im Knopfloch seines Jäckchens getragen, und als sie
abends alle Blätter verlor, hatte er geweint, ohne recht zu wissen,
warum.
Da widerfuhr den Kindern an einem schönen Herbsttage ein unerwartetes
Glück. Sie kamen eben aus Tante Dinas Laden, als eine Schar geputzter
junger Mädchen vorüberging, die wohl eine Spazierfahrt unternehmen
wollten. Eins von ihnen ließ unbemerkt ein Geldtäschchen fallen. Emma
hob es auf, lief ihnen nach und gab es zurück. Die Mädchen sammelten
sich um die kleine Verkäuferin, lobten ihre Ehrlichkeit und beschlossen,
ihr so viel wie möglich von ihrem Kram abzukaufen. Unter Lachen und
Scherzen ward der Korb so ziemlich geleert; Emmas Täschchen aber füllte
sich rasch mit kleiner Münze. Jubelnd kehrte sie zu Willi zurück: „Sieh
nur, sieh, das viele Geld! Und der Korb ist fast leer; nur die
Stiefelwichse ist übrig geblieben! Nun brauch ich heute nicht in die
Häuser zu gehen, da wollen wir in den Park fahren. Die Mädchen haben mir
zehn Cents mehr gegeben, als die Sachen kosten, das langt für uns beide.
Laß uns schnell deinen Sack vollsuchen, den stellen wir dann mit meinem
Korb zu Tante Dina und holen ihn abends wieder ab.“
Ganz aufgeregt durch ihr großes Unternehmen liefen die Kinder fort, und
stiegen nach einer Stunde glückselig in den Straßenbahnwagen, versehen
mit zwei Stücken Brot, dem Geschenk der Negerin. Sie mußten draußen auf
der Plattform stehen bleiben, denn der Führer wies Willi, als er in den
Wagen treten wollte, mit den Worten zurück: „Hinaus mit dir, du kleines
Lumpenbündel!“ Doch konnten sie sich da draußen desto besser umsehen.
Der Knabe war noch nie aus dem unruhigen, übervölkerten Stadtteil
herausgekommen, und die breiten Straßen mit den schönen Häusern, die
Gärten mit den glänzenden Herbstblumen, die freien Plätze, wo fröhliche
Kinder spielten, waren ihm eine neue Welt. Er fragte so viel, daß Emma
kaum genug antworten konnte. „Hier ist’s viel schöner, als an unserem
Markt“, sagte er; „warum wohnen wir nicht hier?“ „Das ginge ja gar
nicht“, belehrte Emma; „du würdest hier gar keine Lumpen finden, sieh
nur, wie rein die Straßen sind! Und meine Sachen würde hier auch niemand
kaufen, die reichen Leute gehen lieber in die schönen Läden.“ „Ja, warum
muß ich immer Lumpen suchen, und du Stecknadeln verkaufen? Hier laufen
so viele Kinder herum, die das nie tun.“ „Das kann ich dir nicht so
schnell sagen; ich will die Großmutter fragen, die weiß alles. Sieh,
hier sind wir am Park!“ Zaghaft traten die Kinder in den schönen
öffentlichen Garten, wo auch der Ärmste freien Zutritt hatte. Hand in
Hand gingen sie schweigend durch die schattigen Gänge, bis sie
plötzlich, aus dichtem Gebüsch tretend, vor der klaren, sonnenbeglänzten
Wasserfläche des Teiches standen, auf der schneeweiße Schwäne ruhig
einherschwammen. Willi stieß einen Ausruf des Entzückens aus, er sprang
in die Höhe und klatschte vor Freuden in die Hände, zum erstenmal in
seinem armen Leben. Zum Glück waren nicht zu viel Leute im Park, so daß
die Kinder ihre Freude ungestört genießen konnten. Sie ruhten auf den
bequemen Bänken, lockten die Schwäne mit Bröckchen ihres Brotes,
pflückten Gänseblümchen am Rand der Rasenplätze, und löschten ihren
Durst an den kleinen plätschernden Wasserfällen, die über künstlich
gebaute Felsen sprangen.
Schon mehrmals hatte Emma zur Heimkehr gemahnt, denn die Sonne neigte
sich zum Untergang, aber Willi bat immer wieder: „O, noch einmal zu den
Schwänen, noch einmal zum Wasserfall und zu den feuerroten Blumen
Endlich betraten die Kinder die Plattform eines Wagens, der, wie
gewöhnlich um diese Zeit, gedrängt voll war und sich mehr und mehr
füllte, so daß sie, zwischen Männern stehend, nicht mehr auf die Straße
sehen konnten. Nach und nach lichtete sich das Gedränge, und zuletzt
standen sie wieder ganz allein. Es war schon beinahe ganz finster, als
Emma, die ängstlich um sich schaute, zu Willi sagte: „Wir müssen nun
bald da sein, wir fahren schon so lange. Es kommt mir alles so fremd
vor! Aber sieh, da ist der Markt, dort in dem Gäßchen ist Tante Dinas
Laden; wir kommen gerade noch zurecht, ehe sie ihn schließt.“
Sie sprangen herunter und liefen eilig ihrem Ziele zu. Aber O weh! Es
war wohl ein kleiner Laden, dem der Negerin ähnlich, aber betrunkene
Männer lärmten darin, und einer von ihnen stieß die Kinder unsanft
zurück, als sie eintreten wollten. Emma spähte mit ihren scharfen Augen
umher. Ach, es war kein Zweifel, es war nicht der rechte Markt! Sie
hatten sich verirrt in der großen Stadt, wo sie nur wenig Bescheid
wußten. „Ich weiß, wie es gekommen ist“, ’sagte Emma; „wir sind in einen
falschen Wagen gestiegen und nach einer andern Richtung gefahren. Wir
wollen die Leute um den Weg fragen und recht laufen; vielleicht finden
wir uns noch heim, eh’ alle Häuser zugeschlossen werden. Es kann nicht
so sehr weit sein!“ Und sie fragten und liefen, und fragten wieder, bis
sie endlich, als die Straßen schon ganz still wurden, an ihrer bekannten
Marktecke ankamen. Müde und erschöpft klopften sie an Dinas Ladentür.
Alles war still und finster. „Es hilft nichts“, sagte Emma leise, „wir
kommen nicht mehr herein. Unser Haus wird gewiß zu sein, und deins wohl
auch?“ „Schon lange!“ stimmte Willi bei. „Die Tante hat schon oft
draußen bleiben müssen, wenn sie spät kam. Der Wirt macht nicht mehr
auf, wenn er zu Bett ist, man mag klopfen, soviel man will.“ „So müssen
wir die Nacht draußen bleiben“, entschied Emma; „es ist nicht so
schlimm, es ist ja nicht kalt. Nur tut es mir leid, daß Großmutter sich
um mich sorgen wird.“ Um Willi sorgte sich niemand, so freute er sich
fast, auch einmal über Nacht bei Emma zu bleiben.
„Komm“, sagte diese, „laß uns zwischen den Gemüsebuden suchen.
Vielleicht finden wir einen leeren Korb oder einen Wagen, worin wir
schlafen können. Nur schnell, eh’ uns ein Polizeimann sieht! Der denkt
sonst, wir sind Diebe, und bringt uns in das Stationshaus.“
Der Gedanke, von einem Polizeimann gefunden zu werden, war für Willi
schrecklich, denn die Tante hatte ihn gelehrt, diese Leute als seine
ärgsten Feinde anzusehen. Er machte auf seinen Wanderungen weite Umwege
und hockte stundenlang in dunklen Winkeln, um ihren Augen zu entgehen.
Zum Glück wußten die Kinder Bescheid auf dem Markte, wo sie sich oft
umhertrieben. Sie fanden bald eine große leere Kiste, ja, sogar etwas
Stroh hineinzulegen, und waren mit dem einfachen Nachtlager ganz
zufrieden. Nachdem Emma einige Körbe ringsherum gestellt hatte, um die
scharfen Augen des Polizeimannes zu täuschen, kletterten sie in die
Behausung und ruhten dicht aneinandergeschmiegt von ihrer großen
Ermüdung. Aber schlafen konnten sie nicht so bald, dazu waren sie noch
zu aufgeregt. Willi lag ganz still und dachte an die Schwäne, die Blumen
und den Wasserfall. Er freute sich, daß es so still und friedlich um ihn
her war; denn zu Hause lärmten die Männer oft die halbe Nacht beim
Kartenspiel. Da zeigte sich ein heller Schein über den
gegenüberliegenden Häusern. Der Mond ging auf und blickte klar und still
auf die Kinder nieder.
„Emma“, flüsterte der Knabe, zum Himmel emporzeigend, „wer hat das
gemacht?“ „Ach, armer Junge“, erwiderte das Mädchen, „weißt du das nicht
einmal? Gott hat es gemacht! Was du nur siehst, den Himmel, die Bäume,
die Blumen und die Schwäne, die dir so gefielen: alles hat Gott
gemacht!“ „Wer ist denn Gott? Er muß sehr stark sein und sehr klug, daß
er so schöne Dinge machen kann.“ „Freilich, er kann alles machen, was er
nur will. Er ist unser Vater und wohnt im Himmel.“ „Ist er auch mein
Vater? Die Tante sagt doch, ich hätte gar keinen.“ „Deine Tante weiß es
wohl selbst nicht! Meine Großmutter weiß alles von Gott, und erzählt mir
viel von ihm. Glaub’ es nur, Gott will auch dein Vater sein und hat dich
sehr lieb!“ „Dann wollt’ ich, er gäbe mir ein bißchen mehr Brot, daß ich
nicht so zu hungern brauche!“ sagte Willi nachdenklich. „Warte nur, wenn
du stirbst, nimmt er dich zu sich in den Himmel; da hungerst du nie
mehr.“ „Ist’s dort so schön wie im Park?“ „O, noch tausendmal schöner!“
„Ja, dann werd’ ich aber gar nicht hineinpassen; ich bin so zerrissen
und schmutzig. Schon im Park schämte ich mich manchmal vor den schönen
Kindern.“ „Dann bekommst du ja neue Kleider, ganz weiß und glänzend! Die
gibt der Heiland allen, die an ihn glauben. Ach, aber du weißt ja gar
nicht, wer das ist! Das ist wirklich recht schlimm; denn das müssen alle
Menschen wissen. Siehst du, der liebe Gott hat einen einzigen Sohn, der
heißt Jesus. Den hat er einmal auf die Erde geschickt, da ist er ein
armes, kleines Kind geworden. Und als er groß war, hat er den Menschen
viel, viel Gutes getan und ist zuletzt für sie gestorben. Dann ist er
wieder auferstanden und in den Himmel gefahren und hat die Tür weit
aufgemacht; da dürfen nun alle hinein, die an ihn glauben. Sonst darf
niemand hinein, denn wir passen alle nicht in den Himmel, auch die
reichen, schöngeputzten Leute nicht.
Wir sind alle oft bös und unartig, und dort muß alles ganz gut und rein
sein. Glaub’ das nur einstweilen, denn es ist ganz gewiß wahr. Ich will
dir noch sehr viel davon erzählen, wenn du es gern hörst, aber jetzt
müssen wir still sein; ich höre Schritte, das ist der Marktwächter, der
die Runde macht. Ich muß auch nun schlafen, denn ich bin sehr müde!“
Damit legte sie ihr Köpfchen nieder und war bald eingeschlummert. Willi
aber wachte noch lange und schaute zum Himmel empor. Wie wunderbar war
es doch, daß er dort einen Vater hatte! Und wie gut mußte der Jesus
sein, der aus dem schönen Himmel herabgekommen war auf die arme, dunkle
Erde, wo man so oft hungerte und fror! Er liebte ihn jetzt schon und
freute sich so sehr, mehr von ihm zu hören.
Endlich schlief er ein und träumte, er säße auf dem Rücken eines
Schwanes, und flöge mit ihm empor, höher und immer höher, bis hinauf in
den glänzenden Sternenhimmel. Jetzt sah er von weitem die offene
Himmelstür, ein heller Schein ging daraus hervor. Jetzt war er ganz
nahe, da wachte er auf und es war heller Tag, und Emma schlief an seiner
Seite auf dem Stroh. Er weckte sie eilig; denn wenige Schritte von der
Kiste hielt schon ein Marktwagen und man hörte deutlich die Stimmen der
Händler. Schnell kletterten die Kinder heraus, erreichten unbemerkt die
Straße, holten Korb und Lumpensack aus Tante Dinas Laden und nahmen
zärtlich Abschied voneinander. „Aber am Freitag erzählst du mir vom
Heiland!“ war Willis letztes Wort.
Von da an begann für den armen Knaben ein neues Leben. Wie er im Traum
näher und näher zum Himmel geflogen war, so erhob sich seine kleine
schmachtende Seele mit jedem Tag höher über sein elendes Erdenleben. Es
waren nur Brosamen, die ihm das kleine, unwissende Mädchen mitteilen
konnte. Aber sie besuchte eine Sonntagsschule und hörte dort die
Geschichten aus dem Leben des Heilandes. Diese erzählte sie ihrem
Schützling in kindlicher Weise, und er nahm sie begierig in sein kleines
Herz auf. Nur eins tat ihm leid, daß das alles schon so lange her war
und er nicht selbst zu dem lieben Jesus gehen konnte, der gar so gut und
freundlich war. Wenn sein Stückchen Brot den Hunger so gar nicht stillen
wollte, wünschte er oft, der Heiland wäre da, der so viele Leute mit
wenig Brot sattmachen konnte. Und wenn die Tante ihn abends immer
unfreundlicher herumstieß und so rauh mit ihm sprach, sehnte er sich
unbeschreiblich, eins von den Kindern zu sein, die Jesus auf den Schoß
nahm, herzte und segnete. Er klagte das oft Emma, sie wußte ihm aber
nicht zu helfen. Sie war immer fröhlich und leichten Herzens, und hatte
lange nicht so ernste Gedanken als Willi. Seit sie aber merkte, wie
glücklich den Kleinen ihre Erzählungen machten, ging sie viel
regelmäßiger in die Sonntagsschule und war sehr aufmerksam, um ihm recht
viel mitteilen zu können.
So kam sie eines Morgens fröhlich auf Willi zu: „Diesmal kann ich dir
was Schönes erzählen, das wird dir gefallen. Du brauchst nicht mehr
traurig zu sein, daß der Heiland nicht mehr auf Erden ist; Er ist doch
noch da, wir haben’s am Sonntag gelernt!“ „O, wo denn? Wo ist Er? Können
wir nicht hingehen?“
„Sehen kann man ihn nicht, aber Er ist überall, hier bei uns auf der
Straße und zu Hause; Er hat es selbst gesagt. Als seine Jünger traurig
waren, daß Er wieder in den Himmel ging, sagte Er: ,Siehe, ich bin bei
euch alle Tage, bis an der Welt Ende!’ Die Lehrerin sagte, wir sollten
diesen Spruch nie vergessen; darum hat sie uns schöne kleine Karten
gegeben, wo er darauf steht. Ich will dir meine schenken, denn ich
glaube, du freust dich mehr darüber als ich.“ Willi nahm die kleine
goldbedruckte Karte und sagte sich ihren Inhalt unzähligemal des Tages
vor. O, nun war er ja nicht mehr allein! Wenn er scheu durch die Straßen
irrte, war es ihm oft, als führe ihn der Heiland an der Hand. Wenn er
abends sein müdes Köpfchen auf das harte Strohlager legte, lächelte er
vor sich hin; denn er legte sich ja an Jesu Brust. Emma hatte ihm einige
kleine Gebete gelehrt, aber sie waren ihm bald nicht mehr genug; er
sagte dem Heiland alles, was ihm auf dem Herzen lag, und wußte gewiß,
daß Er es hörte. Ja gewiß, Er hörte es und erfüllte das Herz des armen
Kindes mit Trost und Hoffnung, daß es Hunger und Kälte nicht mehr
achtete.
Es kam ein kalter Winter, und sein Jäckchen war ihm viel zu klein; es
wärmte nicht mehr, und er mußte die nackten Füße mit Lumpen umwickeln,
um nicht zu erfrieren. Er ward blässer und magerer, und das Herumlaufen
ward ihm sehr schwer; doch schleppte er sich täglich heraus, denn zu
Hause hätte er verhungern müssen. Die Tante kam jetzt oft tagelang nicht
heim und sorgte immer weniger für ihn, obgleich sie nicht mehr so arm
war; denn neben ihrer Kiste stand jetzt noch ein großer Sack voll
allerhand Sachen. Als Willi ihn aber einst öffnete, um hinein zu sehen,
riß sie ihn bei den Haaren zurück und drohte ihn tot zu schlagen, wenn
er es wieder täte. Nach dem Lumpensäckchen fragte sie nicht mehr oft und
überließ den Kleinen ganz sich selbst. In den kältesten Tagen durfte er
stundenlang an Tante Dinas Ofen sitzen, ohne daß er fürchten mußte,
etwas zu versäumen. Die Negerin ward immer freundlicher gegen ihn, und
ohne ihre Barmherzigkeit wäre er vielleicht während dieses Winters im
Elend umgekommen. Eines Tages betrachtete sie kopfschüttelnd seine
kleine abgezehrte Gestalt und flüsterte geheimnisvoll einer Nachbarin
zu: „Polly, siehst du dieses Kind? Es eilt nach dem himmlischen
Jerusalem; wenn der Frühling kommt, wird es durch die goldene Pforte
gehen!“
Sie meinte, Willi habe nichts davon verstanden; aber er wußte gar wohl,
was sie meinte, und freute sich auf den Frühling, wo er durch die of37
fene Himmelstür gehen und den Heiland wirklich sehen sollte. Er erzählte
es auch Emma, sie konnte das aber nicht begreifen. „Warum willst du denn
sterben?“ fragte sie. „Es ist ja so hübsch auf der Erde. Sieh, wie weiß
der frische Schnee ist; halte meinen Korb ein wenig, ich will versuchen,
ob er sich ballt. O, dort ist eine lange Eisbahn, da muß ich ein bißchen
darauf gleiten! Warte du hier, ich will dich in mein Tuch wickeln; du
brauchst es nötiger als ich.“
Emma war ja frisch und gesund und fand, wenn sie heimkam, ein war38 mes
Stübchen, eine Suppe und, was das beste war, die freundliche Großmutter;
da konnte sie wohl auch im Winter fröhlich sein. Zu Weihnachten teilte
sie die Nüsse und das Zuckerwerk, das sie in der Sonntagsschule
bekommen, redlich mit Willi, und beglückte ihn durch ein buntes
Bildchen, das Christi Geburt darstellte. Bald darauf aber fiel auch auf
ihre harmlose Heiterkeit ein Schatten. Die Großmutter fing an zu
kränkeln; sie ward zusehends schwächer und konnte nicht mehr stricken,
so daß Emmas kleiner Verdienst für alles ausreichen mußte. Dennoch ließ
das muntere Mädchen die Hoffnung nicht sinken. „Warte nur noch ein paar
Wochen“, sagte sie zu Willi, „dann wird Frühling, und alles wird wieder
gut; dann wird die Großmutter wieder gesund, und kann in der warmen
Sonne vor der Tür sitzen und stricken. Du wirst dann auch wieder gesund,
und wir fahren in den Park, daß du die Schwäne wieder siehst.“
Endlich war der lange Winter vergangen. Auf dem Markt wurden schon
kleine Sträußchen der ersten Frühlingsblumen verkauft, und die Bäume an
den Straßen überzogen sich mit einem Schleier von zartem, frischen Grün.
Eines Morgens saß Willi auf dem Eckstein am Markt und wartete auf Emma.
Schon zweimal war sie nicht gekommen; sollte sie wohl auch krank
geworden sein? Gerade heute sehnte er sich so sehr nach ihr. Es war ihm,
als müsse er Abschied von ihr nehmen, denn er fühlte, daß er ganz nahe
an der Himmelstür war. Sein Kopf schmerzte, und er war so schwach, daß
er sich nur mit Mühe fortschleppen konnte. Dennoch lief er wieder und
wieder den Markt auf und ab, um Emma zu finden; aber es war umsonst, sie
kam auch heute nicht.
Ganz matt vom Warten und Weinen machte er sich abends auf den Heimweg.
Er hatte den düstern Hausflur betreten und wollte die Stubentür öffnen;
da hörte er drinnen wilden Lärm, Geschrei und Gepolter, als ob ein Kampf
stattfände. Gewiß waren die Männer wieder betrunken! Er wagte nicht
einzutreten, sondern kauerte in dem dunkelsten Winkel des Hausflurs, um
zu warten, bis das Schlimmste vorüber sei. Immer heftiger ward das
Geschrei, dazwischen tönten ernste, ruhige Stimmen, die Willi nicht
kannte. Plötzlich fiel ein Schuß, ein dumpfer Fall folgte; dann ward
alles still, nur leises, ängstliches Gemurmel war noch zu vernehmen. Auf
der Straße aber liefen die Leute zusammen und versuchten ins Haus zu
dringen. Da öffnete sich die Stubentür, ein heller Schein fiel auf den
Flur gerade in Willis Ecke, und mit Entsetzen sah er zwei Polizeimänner
mit gezogenen Säbeln heraustreten. Sie trieben die Leute auf die Straße
zurück, und einer blieb als Wache an der Tür stehen. Der andere aber
packte Willi unsanft bei der Schulter, riß ihn empor und schleppte ihn
ins Zimmer. Dort bot sich dem armen, zitternden Jungen ein schrecklicher
Anblick. Seine Mitbewohner, Männer und Frauen, standen verstört umher
mit gefesselten Händen, streng bewacht von mehreren Polizeidienern. Die
Betten und Strohlager waren zerzaust und zertreten, die Kisten
umgestürzt, und ihr Inhalt auf der Erde verstreut. Da lagen Dinge umher,
die man in dieser Behausung des Elendes nicht vermutet hätte: silberne
Löffel und Becher, gute Kleider und kostbare Pelzwaren, Wäsche und
Schmucksachen, alles wild durcheinander. Aber mitten in diesem Gewühl
lag eine stille, regungslose Gestalt; es war Willie’s Tante. Aus einer
Wunde in ihrem Kopf strömte das Blut, und sie war tot! —
Ohne daß Willi es ahnte, waren seine Stubengenossen schon seit langer
Zeit Diebe und Räuber gewesen. Nach langem Suchen hatte endlich die
Polizei den Schlupfwinkel entdeckt; und an diesem Abend, als sich die
Bösewichter ganz sicher glaubten und sich an gestohlener Speise und
Trank gütlich taten, waren sie plötzlich überfallen worden. Mit wilder
Wut hatten sie ihre Freiheit und ihren Raub verteidigt und waren endlich
mit scharfen Messern auf die Polizeidiener eingedrungen. Einer derselben
wurde verwundet, schoß, um sein Leben zu retten, mit seiner Pistole
unter die wütende Schar, und Willis Tante stürzte, tödlich getroffen, zu
Boden.
Angstvoll sah sich der bleiche Knabe auf diesem Schauplatz der
Zerstörung um. Sein Strohlager, die einzige Zufluchtsstätte für seinen
müden, kranken Körper, war zerstört; die Tante, die ihm doch manchmal
noch Brot gegeben, lag tot am Boden; Emma war spurlos verschwunden: das
war zu viel für ihn! Jammernd hob er die mageren Händchen empor und
rief, in Tränen ausbrechend: „Jetzt, lieber Heiland, mußt du mich zur
Tür hineinlassen; Emma ist fort, die Tante ist tot, und das Bett ist
weg! Ich habe keinen Platz mehr auf der ganzen Welt.“ Matt ließ er die
Hände sinken, taumelte und sank ohnmächtig über den toten Körper hin.
Als er die Augen wieder aufschlug, war es mitten in der Nacht. Er lag
auf einem weichen Bett; seine Lumpen waren ihm ausgezogen, ein warmes
Nachthemdchen umschloß seine Glieder. Er war zu müde, um den Kopf zu
heben, und konnte nicht sehen, wo er sich befand, denn die Lampe, die
neben seinem Bett brannte, war fast ganz durch einen grünen Schirm
verhüllt. An einer Seite aber brach ein heller Schein hervor und fiel
auf die gegenüberliegende Wand. Er blickte hin, und, o Wunder! da stand
hoch oben eine herrliche Gestalt, ein Mann mit holdseligem, freundlichem
Gesicht, und er hatte die Hände segnend ausgebreitet. Ja, das war Jesus,
den er so liebte! So hatte Er ausgesehen auf den Bildern, die Emma aus
der Sonntagsschule brachte. So war er also durch die Himmelstür gegangen
und alle Not war vorbei! Die Freude gab ihm Kraft, er richtete sich auf
und streckte sehnsüchtig beide Hände nach der Gestalt aus.
„Was willst du, mein Kind?“ fragte eine sanfte Stimme. Eine Frau in
seltsamer, weißer Haube beugte sich über ihn und legte ihn in die Kissen
zurück.
„Dem Heiland guten Tag sagen“, erwiderte Willi; „ich bin so froh, daß
ich im Himmel bin!“
„Du bist nicht im Himmel, armes Kind, aber du bist in einem guten Haus,
und sollst nie wieder elend und verlassen herumlaufen. Jetzt mußt du
stilliegen und schlafen; denn du bist sehr krank.“ „Wer ist das?“ fragte
der Knabe, auf die helle Gestalt an der Wand zeigend.
„Das ist nur ein Bild vom lieben Heiland. Ich will den Schirm von der
Lampe nehmen, damit du es besser sehen kannst. Wir haben es hingehangen
zum Trost für die armen Kinder, die wir hier pflegen.“ Willi sah um
sich: Ja, da standen eine Menge kleine Betten, und in jedem schlief ein
Kind. Er hätte gern gewußt, wie alles gekommen war, aber die Frau
erlaubte ihm nicht zu sprechen, und bald war er sanft eingeschlafen.
Mehrere Tage lang lag er still und matt in seinem Bettchen. Er schlief
meistens; und wenn er erwachte, sah er das Bild an, und freute sich des
Friedens und der Ruhe, die um ihn her herrschte. Seine Pflegerin und ein
fremder, ernster Mann beugten sich oft über ihn, gaben ihm einen guten
Trank zu trinken, störten ihn aber nicht in seiner Ruhe. Am dritten
Abend hörte er den Mann sagen: „Er ist heute bedeutend besser; er ist
eigentlich nicht krank, nur ganz schwach durch Hunger und Elend. Von
morgen an darf er kräftige Speise bekommen, dann wird er sich schnell
erholen.“ So geschah es auch.
Am andern Morgen saß Willi aufgerichtet im Bett, über welches ein Brett
gelegt war, worauf sein Frühstück stand. O wie labte er sich an der
süßen Milch und dem schönen weißen Brot! Lächelnd sah ihm die Wärterin
zu und streichelte seinen Kopf. Das gab ihm Mut, sie anzureden. „Wo bin
ich denn“, fragte er schüchtern, „und wer hat mich hergebracht?“
„Du bist in der Kinderheimat“, entgegnete die Frau, „und die
Polizeimänner, vor denen du dich so fürchtest, haben dich gebracht. Als
du neulich so krank wurdest, und wie tot zur Erde fielst, riefst du noch
mit deiner letzten Kraft den Heiland an.
Da merkten sie, daß du nicht ins Gefängnis gehörtest; sie fanden auch in
deinem Säckchen nichts Gestohlenes, und in der Tasche deines Jäckchens
nur diese beiden Karten.“ Damit legte sie die Spruchkarte und das
Weihnachtsbild auf die Bettdecke.
„Darf ich nun immer hierbleiben, oder muß ich wieder Lumpen suchen?“
fragte der Kleine weiter.
„Lumpen sollst du nie mehr suchen; aber wenn du kräftig genug bist,
sollst du eine weite Reise machen ins schöne grüne Land, wo Bäume
wachsen und schöne Blumen. Dort wird dich ein guter Landmann zu sich
nehmen, dich versorgen und dir viel Gutes lehren. Wir schicken viele von
unsern armen kleinen Jungen aufs Land; denn sie wachsen dort gesünder
aus, und sehen nicht so viel Böses, als hier in der großen Stadt.“
„Wo sind denn die Kinder, die in den andern Betten schliefen?“ „Die sind
schon aufgestanden, als du noch schliefst; sie sind jetzt im Schulzimmer
und lernen, hernach spielen sie im Garten. Wenn du stark genug bist,
sollst du alles sehen.“
Willi lag eine Weile still und sah zu, wie die Wärterin das Zimmer
aufräumte und reinigte. Also ins grüne Land sollte er kommen, zu Bäumen
und Blumen, die er so sehr liebte! Ja, das war schön; aber wie sollte er
sich daran freuen ohne Emma! Es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er sie
vielleicht nie mehr sehen werde, wenn er einmal aus der Stadt weg sei.
Endlich hatte die Frau ihre Arbeit beendet und trat an sein Bett, um ihm
Arznei zu reichen. „Dürfen auch Mädchen ins schöne grüne Land oder nur
Jungen?“ fragte er ängstlich.
„O nein, auch Mädchen; sie müssen dann draußen die kleinen Kinder warten
und das Vieh hüten.“
„Ach, dann hole doch Emma her und schicke sie mit mir hinaus; ich kann
nicht ohne sie glücklich sein!“
„Wer ist denn Emma? Erzähle mir alles von ihr.“
„Emma ist so ein gutes Mädchen; sie verkauft Zwirn und Nadeln und
Schuhwichse, und ihre Großmutter strickt Kinderstrümpfe. Sie hat mich
sehr lieb und teilte alles mit mir; sie bat auch Tante Dina, mir Kaffee
zu geben. Im Winter brachte sie mir oft warme Kartoffeln mit, und
wickelte mich in ihr Tuch, wenn ich so sehr fror. Sie erzählte mir auch
so schöne Geschichten und sagte mir, daß Jesus bei mir ist. Sonst hätte
ich das nie gehört und hätte nie den Weg zur Himmelstür finden können.
Sie hat mir auch die schönen Karten geschenkt, die sie in der
Sonntagsschule bekommen hat. Aber sie muß krank sein, denn sie war schon
zweimal nicht auf dem Markt.“
„Es ist recht von dir, daß du Emma so lieb hast“, sagte die Wärterin;
„sie hat dir sehr viel Gutes getan. Aber herholen kann ich sie nicht,
denn in diesem Haus sind nur Knaben; für die Mädchen ist ein anderes
gebaut. Auch dürfen wir Emma nicht von ihrer Großmutter wegnehmen;
unsere Häuser sind nur für ganz verlassene Kinder, die niemand haben,
der für sie sorgt.“
Damit mußte sich Willi zufrieden geben. In wenigen Tagen war er kräftig
genug, das Bett zu verlassen und Spiel und Arbeit mit den andern Knaben
zu teilen. Aber er paßte nicht zu ihnen. Er war still und scheu, und sie
waren so wild und lustig. Er war froh, wenn der Abend kam, und er still
in seinem Bettchen liegen und das Heilandsbild betrachten durfte. Dann
faltete er die Hände und betete immer und immer wieder: „Ach, laß doch
Emma noch kommen, ehe ich fortgebracht werde, laß mich sie nur noch
einmal wiedersehen!“
Eines Morgens wurden die Knaben zeitig geweckt, in gute neue Anzüge
gekleidet, und nach einem reichlichen Frühstück ging die Reise fort ins
weite grüne Land. Es war ein ganzer Eisenbahnwagen voll Knaben, und es
ging laut und fröhlich genug darin zu. Nur Willi und ein paar ebenso
blasse, kränkliche Jungen saßen still in einer Ecke. Ach, er war so sehr
traurig, daß er fort mußte, ohne Emma gesehen zu haben. Warum tat ihm
der Heiland das nicht zuliebe? Er konnte es doch; wenn auch die Frau
sagte, daß keine Mädchen in das Haus gehörten! Aber der Zug fuhr fort,
immer weiter von der lärmenden Stadt, und Emma war nicht gekommen. Auf
vielen Stationen warteten Farmer, die versprochen hatten, solche Kinder
in Pflege zu nehmen, und der Wagen ward immer leerer. Ängstlich wartete
Willi, wann die Reihe an ihn kommen würde; aber immer wieder blieb er
zurück, zuletzt allein mit drei seiner stillen Genossen.
Endlich gegen Abend hielt der Zug in einer herrlichen Gebirgslandschaft.
Dunkle Wälder und helle, sonnenbeschienene Saatfelder wechselten
miteinander ab, dazwischen freundliche Farmhäuser mit blühenden Gärten.
Willi und seine Gefährten wurden herausgebracht, und einige freundliche
Männer traten ihnen entgegen. „Hier bring’ ich die kleinen kranken
Vöglein; Gott gebe, daß sie im grünen Walde wieder aufleben!“ sagte der
Aufseher, der die Knaben begleitet hatte.
„Dies hier ist der Allerschwächste; er wird noch lange nicht arbeiten
können“, fuhr er fort, Willi bei der Hand nehmend. „Wer will sich mit
dem belasten?“ „Gebt ihn mir, in Gottes Namen!“ rief ein junger,
stattlicher Mann in guter Kleidung. „Mein kleiner Eddy, der neulich an
der Bräune starb, hatte ebensolche blonde Locken und blaue Augen. Meine
Frau wird ihn gern behalten.“ Rasch nahm er Willi auf den Arm, trug ihn
nach einem Wagen, und fuhr mit ihm davon, gerade in den grünen Wald
hinein. Unterwegs sprach er ihm freundlich zu, erzählte ihm von den
Pferden und Kühen, die es auf seiner Farm gäbe, von den Obstbäumen und
Blumen im Garten, und von seinem kleinen Mädchen, das Annchen hieß und
noch in der Wiege lag.
Bald lichtete sich der Wald und mitten in grünen Wiesen und Feldern sah
man ein freundliches weißes Farmhaus. Zwei schöne Hunde sprangen freudig
bellend an dem Wagen empor, der bald auf dem sauber gehaltenen Hofe
anhielt. Der Mann stieg ab und hob Willi herunter. Die Haustür öffnete
sich, eine Frau trat heraus mit einem kleinen Kinde auf dem Arm, hinter
ihr ein schlankes Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Willi stand einen
Augenblick wie betäubt; dann breitete er die Arme aus und eilte mit dem
Rufe: „Emma, meine Emma!“ auf das Mädchen zu. Vor Freude weinend hielten
sich die Kinder umschlungen; und es dauerte lange, ehe Emma mit kurzen
Worten Bericht geben konnte, woher sie den fremden Knaben kenne. Gerührt
hörten die Farmersleute die Erzählung des Mädchens. „Euch hat Gott
zusammengeführt“, sagte die Frau; „wir wollen euch mit seiner Hilfe gut
erziehen und euch ein glückliches Leben berei55 ten. Jetzt, Emma, nimm
die Kleine und bringe sie in den Schlaf, indessen ich das Abendbrot
zurichte.“
Aber wie war Emma hierher gekommen? Als sie vor wenigen Wochen eines
Abends vom Markt nach Hause kam, war es so still im Zimmer, und die
Großmutter antwortete gar nicht auf ihren fröhlichen Gruß. Sie zündete
die kleine Lampe an und blickte um sich. Da saß die gute alte Frau in
ihrem Stuhl, die Hände waren gefaltet, die blinden Augen wie im Schlaf
geschlossen; aber sie erwachte auf Erden nicht wieder, denn sie war
gestorben. Auf Emmas Jammergeschrei kamen die übrigen Hausbewohner
herein; sie nahmen sich des Kindes an, so gut sie konnten, und sorgten
für das Begräbnis. Es war ein herrlicher Frühlingstag, als die
Großmutter zur letzten Ruhe gebracht wurde, aber Emma sah nichts von den
grünen Bäumen und bunten Blumen. Sie hörte nicht, wie die Vöglein
sangen; sie barg ihr Gesicht in die Hände und weinte, als solle ihr das
Herz brechen. Sie hatte nie an den Tod gedacht; sie mochte nicht gern,
daß Willi davon redete, denn sie liebte das Leben. Nun aber hätte sie
sich gern zur Großmutter ins Grab gelegt, wäre gern mit ihr in den
Himmel gegangen, denn auf Erden war sie ganz verlassen. Als das Grab
geschlossen war, und die wenigen Nachbarsfrauen, die der Leiche gefolgt
waren, das Mädchen fortführen wollten, da warf es sich nieder und brach
in so lautes Schluchzen aus, daß man es weithin hörte.
Eine hübsche Frau in Trauerkleidung, die beschäftigt war, ein Kindergrab
mit Blumen zu schmücken, trat herzu und fragte teilnehmend nach dem
Kummer des Mädchens.
„Sie hat Grund zu weinen“, berichtete eine der Nachbarinnen, „sie ist
ein Waisenkind, und die Großmutter, die hier drinnen ruht, war eine
fromme, brave Frau und tat dem Kinde zugute, was sie nur konnte. Jetzt
wird’s anders werden: Ein Onkel von ihr, der sich bisher nie um sie
gekümmert, ist gekommen, um die paar ärmlichen Sachen der Alten in
Beschlag zu nehmen. Er will auch das Kind mitnehmen, nun, da es keine
Mühe mehr macht und arbeiten kann. Sie wird’s bös bei ihm haben, denn er
ist ein wilder Mensch und treibt eine Schankwirtschaft in einem
verrufenen Gäßchen. Es ist schade um die Kleine, sie ist zu gut für
solch ein Geschäft.“
Mit Entsetzen dachte die fremde Frau an die Zukunft, die dem weinenden
Kinde drohte. Eine Weile dachte sie nach, dann beugte sie sich nieder,
faßte Emma bei der Hand und zog sie sanft empor. „Sieh mich an, mein
Kind”, sagte sie; „ich habe Mitleid mit dir, und es scheint, als habe
mich Gott hergesandt, dir zu helfen. Ich brauche ein Kindermädchen für
mein kleines Töchterchen, denn meine Arbeit erlaubt mir nicht, es
genügend zu versorgen. Willst du gehorsam und fleißig sein, so will ich
dich mitnehmen nach unserer Farm, weit draußen im schönen Land, und du
sollst es gut bei mir haben. Du mußt dich aber schnell entschließen;
denn ich muß heute abend noch abreisen. Ich habe nur noch das Grab
meines Söhnleins geschmückt, das hier gestorben ist, während wir bei
meinen alten Eltern zum Besuch waren.“
Was konnte Emma tun, als der Fremden mit Tränen danken und sich von ihr
wegführen lassen aus den dunklen, schmutzigen Straßen hinaus in die
schöne Gotteswelt, wo die Sonne schien und alles grünte und blühte?
Schnell ward sie heimisch auf der Farm, pflegte das Kindchen nach
Herzenslust, und war so munter und anstellig zu aller Arbeit, daß ihre
Herrin sie herzlich liebgewann. Doch hatte sie Willi nicht vergessen;
sie dachte oft an ihn und hätte gern gewußt, ob er noch mit seinem
Säckchen durch die Straßen lief, oder ob Dinas Worte sich erfüllt hatten
und er schon ins himmlische Jerusalem eingegangen war. —
Mehrere Monate waren vergangen, und es war Erntezeit. Nach einem heißen
Arbeitstage ruhten Emma und Willi auf der Bank vor dem Hause. Der Knabe
war kaum wieder zu erkennen; er sah gesund und blühend aus, nur seine
tiefblauen Augen hatten den ernsten Ausdruck behalten, den frühes Elend
ihnen aufgeprägt hatte. Er war sehr glücklich in der neuen Heimat, aber
immer noch still und ein wenig schüchtern. Er konnte es kaum begreifen,
daß er wirklich hier bleiben durfte, um so freundlich behandelt, so gut
gepflegt und so sauber gekleidet zu werden. Oft meinte er, es sei nur
ein Traum, und er müsse plötzlich auf dem Eckstein am Markt aufwachen,
in Lumpen gehüllt, mit dem schmutzigen Säckchen auf dem Rücken.
Niemand mutete ihm schwere Arbeit zu; aber geräuschlos und ungeheißen
leistete er seinen Beschützern tausend kleine Dienste. Die Farmersfrau
fragte oft scherzend, ob wohl die Heinzelmännchen dagewesen seien, um
die Blumen zu begießen, die Tassen zu waschen und die Schuhe so blank zu
putzen. Heute hatte er den Erntearbeitern fleißig Wasser zugetragen und
lehnte sein blondes Köpfchen müde an Emmas Schulter.
Da ward es hell über dem dunklen Waldesrand, der Mond ging strahlend auf
und beleuchtete die liebliche Landschaft. Willi zeigte zum Himmel empor
und flüsterte: „Weißt du noch, wo wir das zum letztenmal miteinander
sahen?“
„In der Kiste auf dem Markt“, antwortete Emma leise; „ich dachte auch
eben daran. Aber hier ist’s viel schöner, nicht wahr?“
„O viel, viel schöner; aber doch war das die beste Nacht in meinem
ganzen Leben. Da erzähltest du mir zuerst vom Heiland, und hernach
träumte ich so schön, daß ich in den Himmel flog.“ „Aber jetzt bist du
gesund und glücklich und bleibst noch gern auf der Erde?“ fragte das
Mädchen.
„Ja, sehr gern, aber immer möcht’ ich nicht hier bleiben. Wenn ich auch
lange lebe und ein Mann werde, will ich doch immer an die offene
Himmelstür denken und an den herrlichen Glanz, der daraus hervorging. Da
möcht’ ich zuletzt hinein und Jesum sehen und immer bei Ihm bleiben.
Möchtest du das nicht auch?“ Emma schwieg eine Weile, dann hob sie mit
heller Stimme an zu singen:
„Laßt mich gehn, laßt mich gehn,\
Daß ich Jesum möge sehn!\
Meine Seel’ ist voll Verlangen,\
Ihn auf ewig zu umfangen\
Und vor seinem Thron zu stehn!“