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author: Berta Rosin
generator: pandoc
title: Nur das Kleid
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- [Nur das Kleid](#nur-das-kleid)
Nur das Kleid {#nur-das-kleid .unnumbered}
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Seit einiger Zeit fürchtete sich der Peterli vor dem Sterben. Er hätte
lieber gar nicht daran gedacht; aber das Denken an den Tod kam immer
ganz von selber, und am meisten, wenn er abends auf seinem Strohsack
lag. Früher war er immer sofort eingeschlafen und war nicht eher
aufgewacht, bis Hans - der Futterknecht - mit harter Faust an die
Kammertür schlug und rief: „Aufstehn, Peterli - es ist Tag!“ — Aber
jetzt — wie Peterli auch ganz, ganz fest die Augen zukniff und sich bald
auf die eine, bald auf die andere Seite legte: der Schlaf wollte oft
lange, lange nicht kommen; immer sah er das tote Meieli vor sich, wie es
so lang ausgestreckt in dem Särglein lag, die wachsbleichen Händlein
gefaltet. Die Äuglein waren noch halb geöffnet gewesen; aber sie war
ganz anders als sonst, so fremd, recht eigentlich zum Fürchten.
Und Peterli fürchtete sich, sobald er daran denken mußte. Er hatte sonst
auf der ganzen Welt nichts so lieb gehabt, wie der Bäuerin ihr einziges,
kleines Meieli. Und wenn er’s oft von allen hatte zu fühlen bekommen,
daß er auf dem Distelhof nur der Verdingbub war, von Meieli fühlte er’s
nie; das war immer gut und lieb zu ihm und weinte, wenn er fort zur
Schule mußte und nicht daheimbleiben konnte. —“Wart, Meieli, bald gehen
wir zusammen zur Schule,“ hatte er’s dann immer getröstet- „weißt, jetzt
bist halt noch zu klein, aber übers Jahr, dann wird’s lustig.“— Nun war
das nicht wahr geworden. Das liebe Mägdelein hatte plötzlich so sehr
schlimmes Halsweh bekommen. Und dann war ein aufgeregtes Hin und Her im
ganzen Haus gewesen, und der Doktor kam auf seinem Wägelein gefahren.
Aber es half alles nichts. Peterli hörte das Keuchen und kurze rauhe
Bellen schon vor der Tür, als ihn die Bäuerin geschickt hatte, frisches
Was4 ser im Krug zu holen, und es ging ihm durch und durch. Und dann -
nach ein paar Stunden war das arme Meieli ganz still – es hatte
ausgelitten. Die Bäuerin tat völlig trostlos, und der Bauer machte ein
finsteres Gesicht und sprach mit keinem ein Wort.
Hernach war der Begräbnistag gekommen. Ums Haus herum hatten sich so
viele schwarze Leute aufgestellt. Das Särglein stand offen vor der
Haustür, und alle kamen still und sahen ergriffen auf die kleine Leiche,
die in der Frühlingssonne dalag, wie ein geknicktes Schneeglöcklein.
Auch Peterli schlich herbei und hätte so gerne etwas Liebes zu Meieli
gesagt; aber es war so sonderbar, es kam ihm vor, als wäre das gar nicht
mehr seine kleine Spielgefährtin, und etwas Kaltes kroch ihm den Rücken
herauf, daß es ihn schüttelte.
Der Herr Schullehrer war ganz blaß, wie ihn der Peterli sonst gar nicht
kannte, und die Augen, die sonst solch warmen Glanz hatten und in denen
sogar oft ein rechter Schalk blitzte, glitten fast schwermütig über die
Menge und blieben dann auf dem bleichen Kindesantlitz im Särglein
haften. Nun ward es ganz still, und der Herr Schullehrer fing auf einmal
mit bewegter Stimme an: „Alle Menschen müssen sterben!“ – Ja, so hatte
er gesagt, und hatte sich dabei an alle Umstehenden gewandt und ganz
deutlich erklärt, wer’s auch sein möge, der hier zugegen sei, ob im
Greisenalter, ob noch in frischer, rüstiger Manneskraft, ob als zarte
Kinderknospe, zu jedem käme der Tod, früh oder spät, heut oder morgen,
oder in Jahren erst; sie müßten alle, alle den Weg gehen, den das kleine
Meieli gegangen sei!
Daran hatte Peterli noch nie gedacht, und nun mußte er über diese Worte
so stark nachdenken, daß er von allem Ernsten und Trostvollen, was der
Schullehrer noch weiter sagte, rein nichts mehr vernahm. Immer starrte
er auf das Särglein und sagte sich selber mit Grauen: Alle Menschen
müssen sterben— und ich auch — und ich möchte wissen, wie’s dem Meieli
ist, und was sie jetzt mit ihm machen. — Völlig wundern tat’s ihn, was
nun wohl mit ihm geschehen würde. — Er hatte ja wohl schon gehört, nach
dem Sterben kämen die Guten in den Himmel und die Schlechten in die
Hölle; aber an sich selber hatte er dabei eigentlich nie gedacht, und
daß es ihn auch etwas anginge — und überhaupt, das Meieli war ja nicht
im Himmel, obschon es sicher gut gewesen war - das lag ja da im Särglein
und konnte sich nicht rühren und bewegen. Dann hatte der Peterli auch
gehört, daß drunten im Kirchdorf, zwei Stunden vom Distelhof entfernt,
die Leute begraben würden. Aber den Friedhof hatte er nie gesehn und
konnte sich ganz und gar kein Bild davon machen, wie man begraben würde
und dann doch in den Himmel komme. Es war ihm unfaßbar.
Ob er wohl Hans, den Futterknecht, einmal darüber befragte? Aber es war
zweifelhaft, ob er etwas Genaues wußte; denn er mochte ihn fast fragen,
was er wollte, so bekam er von ihm gewöhnlich die Antwort: „Weiß nicht —
bin nicht so gelehrt; unsereins muß mit den Händen arbeiten.“
Der Peterle wollte manchmal bedünken, man könnte mit den Händen arbeiten
und dabei doch noch sonst etwas wissen; aber sagen tat er’s nicht. Aber
das wollte er nun: er wollte in der Schule beim Herrn Schullehrer
aufpassen, ob er vielleicht noch einmal etwas vom Sterben sagen würde,
und warum es eine solch unheimliche Sache sei, und wie’s wohl zugehen
könnte, daß man doch lieber sofort in den Himmel käme, und nicht erst in
solch schwarzen Sarg hinein müßte.
O, wie es dem Peterli jetzt weh tat, er hätte am liebsten ganz laut
aufgeschrien! Nun mußte er zusehen, wie zwei Männer den Deckel auf das
Särglein legten und fest zumachten, und die Bäuerin stand daneben und
weinte zum Herzbrechen, und der Bauer machte immer finstere Augen und
preßte die bleichen Lippen zusammen. Dann kam das Särglein mit Meieli
drin auf einen Wagen, und nun bewegte sich der lange lange Zug vom
Distelhof weg langsam den Berg hinunter, dem entfernten Kirchdorf zu.
Peterli stand ganz erstarrt am Brunnen und schaute mit heißen Blicken
dem Zuge nach und vergaß alles um sich herum, auch, daß er nun
eigentlich in den Stall sollte, um Hans zu helfen. So stand er eine gute
Weile, bis plötzlich Leben in den Jungen kam. Er schien einen Entschluß
gefaßt zu haben.
In großen Sätzen rannte er den Berg hinunter auf die ebene Landstraße
dem schon entschwindenden Leichenzug nach. Dann wurden seine Sprünge
weniger wild, und er hielt sich in Steinwurfsentfernung hinter den
letzten Leidtragenden und verfolgte sie mit immer gespannter werdendem
Ausdruck im Gesicht. Ja, jetzt konnte er auch schon von weitem den
Kirchhof sehen. Das mußte er doch wohl sein; denn er lag dicht hinter
der Kirche und war anzusehen wie ein Garten voll Sträucher und Bäume.
Und wie er näher kam, sah er auch von ferne viele weiße Steine und
Kreuze durch das geöffnete Tor, und bald war er hinter der Hecke und
spähte auf10 merksam durch deren Lücken, ob er nun wohl sehen würde, was
sie mit dem Meieli machten. Aber er sah außer den vielen
schwarzgekleideten Menschen nichts. Sie umstanden alle im Kreis eine
Stelle, wo mitten drin der Herr Pfarrer stand und nun seinerseits zu den
Leuten redete. Der kleine Lauscher hinter der Hecke konnte nichts
verstehen; er bemerkte nur, wie zuletzt alle die Hände falteten und der
Herr Pfarrer betete. Danach zerstreute sich die Menge, und Peterli
verkroch sich schnell, damit keiner ihn gewahr werden sollte. Jetzt
stand nur noch ein einziger Mann da, und der hatte eine große Schaufel,
und plötzlich, wie der Mann gerade damit die frische Erde in das kleine
Grab hineinwerfen wollte, fühlte er sich am Rock gezupft. Er erschrak
ordentlich, als er herumfuhr und nun in ein seltsam aufgeregtes
Bubengesicht sah. „Mach nicht so Augen, was willst?“ sagte er ein wenig
ärgerlich. „Ist’s da drin, das Meieli?“ fragte Peterli tonlos und zeigte
hinunter auf den kleinen Sarg, auf den jetzt die harten Erdschollen
polterten. „Freilich, freilich,“ meinte der Totengräber erstaunt und
fuhr unbeirrt fort, mit der Schaufel zu arbeiten und das Grab mit Erde
zu füllen. – „O, o, o!“ – Der Peterli schrie und krümmte sich ordentlich
vor übergroßem Leid, und die Tränen stürzten wie klare Bächlein über
seine schmalen Wangen: „O, nun ist’s ganz drunten in der Erde und kann
nie mehr herauf, und es ist nicht im Himmel – O, o, warum habt ihr’s da
hinein getan!“ – Der Mann mit der Schüppe sah ratlos auf das
schluchzende, bebende Kind. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen.
„Ja, Bub, was tust denn nur so arg - freilich ist’s im Himmel; aber ich
muß es doch begraben – das muß ich doch, und – und – „ er wußte nicht
recht, wie das nun solch unvernünftigem Kind begreiflich zu machen sei,
und so sagte er nur noch: „Geh lieber nach Haus, Bub; du wirst das schon
einmal hören in der Schule oder in der Sonntagsschule.“ — Es tat ihm
wirklich von Herzen leid, wie er nun dem Büblein nachsah, wie’s ohne ein
Wörtlein zu sagen, so müde zum Friedhof hinausschlich. „Als ob’s schon
einen richtigen Verstand hätt’ vom Sterben“, meinte er kopfschüttelnd,
obschon Peterli soeben bewiesen hatte, daß er im Gegenteil noch recht
wenig davon verstand. Er hatte nur die Schrecken des Todes gesehen und
wußte noch nichts von seiner Herrlichkeit. — Hans, der Futterknecht, kam
gerade mit einer großen Bürde Stroh von der Tenne her, als Peterli neben
ihm auftauchte.
Er wollte ihn recht tüchtig anfahren; als er aber in das kalkweiße,
verstörte Gesichtchen sah, fragte er nur kurz: „Wo warst du so lang, daß
man dich zu nichts brauchen kann?“
„Sie haben das Meieli in den Boden hineingetan; ich habe es gesehen, und
es ist ganz tot.“
— Es klang so traurig und trostlos, daß Hans nichts darauf erwidern
konnte, sondern sich mit dem Rockärmel nur sachte über die Augen fuhr. —
Hätte die arme Bäuerin gewußt, wie sehr Peterli ihren Kummer um das
Meieli teilte, es hätte ihr gewiß wohlgetan. Aber sie hatte ja nicht
acht auf den Jungen, er war ja nur das Verdingbüblein.
Und wenn die Bäuerin Abend für Abend nicht zum Schlafen kommen konnte
vor lauter Sehnsucht und Herzweh, so konnte es Peterli ebensowenig. Er
hörte dann immer des Schullehrers klare, bewegte Stimme: „Alle Menschen
müssen sterben!“ — Nun, er wußte, was es auf sich hatte mit dem Sterben,
wie man erst so kalt und still dalag und hernach ganz tief unter die
Erde mußte, da sträubte sich alles, in dem Kinde gegen den Gedanken, daß
es mit ihm ebenso gehen würde. Und doch hatte er das bestimmte Gefühl,
er wisse vom Sterben nur die Hälfte, und darum hatte in der Folgezeit
der Herr Schullehrer keinen aufmerksameren Schüler in der
Religionsstunde als das Verdingkind auf dem Distelhof. Immer hoffte das
Büblein, er möchte einmal wieder etwas vom Sterben sagen und es recht
erklären.
Zur Zeit aber wurden in der Religionsstunde die schönen, lehrreichen
Geschichten des Alten Testamentes behandelt, und der Lehrer, der alle
neun Schuljahre zu gleicher Zeit unterrichtete, ließ an diesen Stunden
auch die Kleinen teilnehmen, was in den anderen Fächern nicht geschehen
konnte. Es war wohl nicht leicht, den Unterricht so zu gestalten, daß
die kleinen Kinder alles genau so verstanden, wie die großen, und so
geschah es wirklich des öfteren, daß etwas über die Köpfe der Kleinen
hinwegging. Aber Peterli hätte gewiß alles verstanden, denn er
verschlang den Herrn Schullehrer förmlich mit seinen Augen vor lauter
Aufmerksamkeit; aber etwas Genaues vom Sterben kam nicht vor. Es hieß
wohl etwa, daß dieser oder jener alt und hochbetagt zu seinen Vätern
versammelt worden sei, mehr aber nicht. Wie leid tat es nun oft dem
Buben, daß er am Begräbnistag vor Schrecken nicht besser zugehört hatte.
So kam der Sommer heran, und Peterli konnte, auch wenn keine Ferien
waren, nicht immer zur Schule; denn da gab’s nun auf dem Distelhof
immerfort so viel Arbeit, daß alle helfenden Hände, und waren sie auch
noch so klein, kaum zu entbehren waren. Aber nach den Ernteferien trat
Regenwetter ein, und da saßen die Schulkinder wieder einmal vollzählig
in der Schulstube, und der Herr Lehrer, der selbst noch jung war, hatte
ein ganz strahlendes Gesicht und war so lustig und froh, daß es das
reine Vergnügen war, ihm zu folgen; und man sah, sie freuten sich alle,
wieder bei ihm zu lernen. Als nun die Schule aus war hieß der Lehrer die
Kinder alle noch einmal sich still hinsetzen, er habe ihnen etwas
Wichtiges mitzuteilen. Künftighin sollte hier in der großen geräumigen
Schulstube an allen Sonntagen mittags von zwei bis drei Uhr
Sonntagsschule abgehalten werden. Wer Lust habe von den Kindern sollte
kommen, die bekämen eine gar liebe Sonntagsschullehrerin, das sei die
junge Frau Schulmeisterin, die nun seit den Ferien für immer zu ihm ins
Schulhäuschen gezogen sei. —
Ja, das war etwas ganz Neues für die Kinder und mußte beim
Nachhausegehen gründlich besprochen werden. Keines aber war innerlich so
erregt von der Aussicht, viel17 leicht in eine Sonntagsschule zu kommen,
wie der Bub vom Distelhof.
Hatte nicht der Mann mit der Schaufel an Meielis Grab auch noch gesagt,
vom Sterben hörte man in der Sonntagsschule? Nun konnte er doch noch
einmal etwas Genaues darüber erfahren. Er überwand zu Hause alle Scheu
vor der Bäuerin, und wie sie gerade in der Küche stand und die Suppe zum
Mittagstisch anrichten wollte, trat der Peterli mit hochrotem Gesicht zu
ihr und bat sie dringlich und flehentlich: „Bäuerin, darf ich am Sonntag
in die Sonntagsschule?“ .— „So, so“, meinte diese verwundert, „wie ist
das denn mit der Sonntagsschule? Wie kommt dir das in den Sinn?“
Da erzählte der Junge, was der Herr Schullehrer ihnen heute mitgeteilt
hatte; und wie er nun einmal ins Reden hineingekommen war, kam’s auch
noch heraus, daß er so gern etwas vom Sterben hören wollte und warum das
Meieli in den Boden hinein ge18 mußt. Der Bäuerin stieg etwas heiß in
die Kehle und schoß ihr in die Augen und sie wandte sich ab und sagte
nur kurz: „Geh nur Peterli, geh nur in die Sonntagsschule“ – Zur
Annekäthe, ihrer Magd, bemerkte sie aber im Laufe des Nachmittags: „Man
mußt dem Peterli mehr Milch in den Kaffee tun, er ist ein gar schmales
Büblein“. —
Am nächsten Sonntag war die Schulstube schon um halb zwei Uhr gefüllt
mit großen und kleinen Kindern, und alle saßen ganz manierlich und
voller Erwartung auf ihren Plätzen. Das Schulzimmer sah so festlich und
sonntäglich aus wie sonst nie; denn überall standen große Sträuße von
nickenden Feldblumen, und auch Edelrosen aus dem Schulhausgärtchen waren
dabei. Die Fenster standen sämtlich auf einer Reihe offen, daß der Wind
und der herrliche Sonnenschein nach den Regentagen ungehindert
hereinfluten konnten. Das alles hatte die neue Frau Schulmeisterin
vormittags so angeordnet, und nun kam sie herein, selber so frisch und
so lieb anzusehen wie ein zartes Feldblümlein.
Die Kinder waren alle ganz still und betrachteten sie mit unverhohlener
Bewunderung. In ihrem duftigen, einfachen Sommerkleid, das nicht nach
bäuerischer Art gemacht war, und mit dem gelben, glänzenden
Flechtenkranz um das feine Köpfchen kam sie den Kindern vor wie ein
schönes Bild, wie sie wohl hie und da eins in einem Buche gesehen
hatten. Das war nun also ihre neue Sonntagsschullehrerin, die solch
schöne, große, tiefblaue Augen hatte und nun mit einem liebewarmen
Ausdruck darin über die ganze Schar hinsah, daß augenblicklich all die
Kinderherzen ihr mit voller Begeisterung entgegenschlugen.
Und wie schön war die erste Stunde! Erst das schlichte Gebet, als ob sie
selber noch ein Kindlein wäre und ganz einfach zu ihrem Vater im Himmel
spräche, so recht natürlich und voll Vertrauen.
Und dann der biblische Teil, wie sie von der „Stillung des Sturmes“
erzählte, so lebendig und anschaulich, daß die Kinder das Gewitter auf
dem schönen See Genezareth ordentlich miterlebten und sich sehr freuten,
daß alles so lieblich endete und hernach wieder ganz mild die Sonne
schien. Und dann führte die Lehrerin auch noch so schön aus, wie es so
herrlich sei, daß man sich eigentlich nie zu fürchten brauche, und man
immer nur denken könne: Der Heiland ist ja mit dabei! — Peterlis Augen
leuchteten, und er dachte heimlich: „Dann ist der Heiland wohl auch
dabei, wenn man sterben muß,“ und etwas Trostvolles kam ihm ins Herz,
obschon er auf seine eigentlichen bangen Fragen noch keine Antwort
hatte.
Jeden Sonntag kamen nun die Kinder zur festgesetzten Zeit und brachten
manchmal noch ihre kleineren Geschwister mit, und immer wars so schön
und anziehend, daß sie alle gar nicht genug bekommen konnten. Aber
einmal hatte ihnen die, Lehrerin eine Geschichte erzählt von einem
kleinen, lahmen Bübchen, wie’s’ so gar keine Freude auf der Welt haben
durfte, wie’s so verlassen war und weder Vater noch Mutter hatte und bei
fremden Leuten sein mußte. Und da kam nun der liebe Heiland eines Nachts
zu ihm und nahm es ganz freundlich bei der Hand und sagte: „Komm mit
Mir!“ Aber das Büblein dachte, es könne ja nicht gehen mit seinen
lahmen, hilflosen Beinchen, die immer nur so schlaff und kraftlos
herunterhingen. „Ich kann nicht laufen“, sagte es darum traurig; aber
der Herr Jesus lächelte ihm liebreich zu und ermunterte es: „Probiers
nur, mit Mir geht es schon!“ — Und wirklich gings und das Büblein
wandelte an des Heilandes Hand über eine weite, große Wiese voll Blumen,
wie es noch keine gesehen, und Er führte es an einen kristallhellen
Strom und schöpfte mit der Hand von dem frischen, köstlichen Wasser und
sagte zu dem Kind: „Da trink einmal davon!“ Und das Büblein trank und
ward darnach ganz gesund, und o, so wohl war es ihm! Da kamen noch
viele, viele Büblein und Mägdlein alle mit weißen Kleidchen und roten
Backen und strahlenden Augen. Man sah, wie es allen so wohl war, und sie
grüßten den Herrn Jesus und das neue Bübchen an seiner Hand und sangen
alle ein wunderschönes Lied. Und der Heiland spielte mit ihnen und
führte sie selbst zu den allerschönsten Plätzchen. „Gelt, im Himmel
ist’s schön“ sagte eines der Kleinen zu dem glückseligen Kind, und nun
wußte das Büblein mit einem Male, wo es war, und seine Freude war
unaussprechlich. Aber die Leute, bei denen das lahme Büblein gewesen
war, wußten nicht, was mit ihm geschehen; sie sagten nur: „Es ist
gestorben!“ Aber es war mit dem Herrn Jesus nur heimgegangen in den
Himmel. —
Ganz hingerissen hatte die Kinderschar an den Lippen der Lehrerin
gehangen, und der Peterli war einmal rot und einmal blaß geworden, und
als nachher nach Schluß alle die Buben und Mädchen nach einem herzlichen
„B’hüt Gott!“ zur Tür hinaus waren, saß der kleine Junge vom Distelhof
immer noch bewegungslos an seinem Platz und sah unverwandt nach der Frau
Schulmeisterin, die am Pult stand und noch in ihrer kleinen Taschenbibel
blätterte. Sie mußte wohl den Blick gefühlt haben, denn nun schaute sie
auf und sah voll Teilnahme auf die schmale Gestalt des Buben und sah,
daß in den dunklen Kinderaugen ein großes, heißes Fragen brannte. Da war
sie auch schon bei ihm. „Komm, Peterli, sag mir’s nur, was du hast;
gelt, mir kannst es schon sagen.“ –
Aber so leicht ging’s doch nicht. Ein trockenes Schluchzen
durchschütterte Peterlis Brust. Wie war ihm bei der Erzählung mit einem
Male der Augenblick so gegenwärtig geworden, wo er hatte zusehen müssen,
wie die Erdschollen auf Meielis Särglein polterten! Die junge
Sonntagschullehrerin strich ihm mit leiser Hand übers Haar und wartete
still und geduldig, und da brach’s endlich ganz leidenschaftlich hervor:
„Das Meieli ist aber doch in die Erde hineingekommen, und das Grab ist
ganz zu, und es lag still im Sarg und konnte nicht mit dem Herrn Jesus
über die Blumenwiese gehn, und o – der Herr Schullehrer hat gesagt:
„Alle Menschen müssen sterben!“ Erschüttert stand die junge Lehrerin vor
dem großen Leid eines Kindes, und sie flehte innerlich: Herr, gib mir
Kraft und Weisheit zu meinem Amt und hilf mir auch jetzt! Und dann
setzte sie sich neben das weinende Büblein und wartete, bis das heftige
Schluchzen ein wenig leiser wurde.
„Peterli!“ - „Ja!“ – „Peterli, nun hör mal. Gelt, das glaubst du doch
nicht vom lieben Heiland, daß Er den Menschen etwas gesagt hat, was
nicht wahr ist?“
„Nein, das wohl nicht“. „ Also nun hat er aber fest versprochen, alle,
die Ihn lieb hätten, sollten da sein, wo Er ist, im Himmel, und von den
Kindern sagt Er’s noch extra, ihnen gehört das Himmelreich. Und jetzt
will ich dich einmal etwas fragen: Wenn ich dich bäte, deine alten
Kleider auszuziehen und dir dafür alles nagelneue hinlegte zum Anziehen,
tätest du’s dann?“
„O ja – sicher!“ meinte das Büblein erstaunt und trocknete die letzten
Tränen weg. „Aber gelt, wenn ich dann deine alten Kleider dort in den
dunklen Kasten legte und ihn ganz feste zumachte, dann tät’s dir doch
sehr leid darum?“
„O nein – gar nicht,“ meinte der Bub, „ich hätte ja dann die neuen
dafür.“ –
„Das wohl, Peterli. Aber nun denk, die alten könnten sich gar nicht mehr
bewegen, nie mehr an der Sonne und an der frischen Luft sein; das würde
dir doch sehr weh tun?“ – Peterli ward immer erstaunter. „Nein“, meinte
er nachdenklich, „ich selber wäre ja nicht mehr drin im Kasten, und die
alten Kleider wissen’s doch gar nicht, daß sie drinnen sind. Sie haben
sich ja auch nie bewegt, das habe doch bloß ich getan!“ –
„Das freut mich, Peterli, daß du mich so schön verstehst,“ fuhr nun die
Lehrerin fort; „aber nun will ich dir noch etwas sagen. Also, das Meieli
lag ganz still und bewegungslos im Sarg und rührte sich nicht mehr,
gerade so, wie deine Jacke auch keine Bewegungen mehr machen würde, wenn
du sie auszögst. Nun Peterli, glaub’s mir nur – das war eben schon gar
nicht mehr das Meieli selber. Sonst hätte es sich ja gewiß rühren
müssen.
Sieh’ mal, wenn man in den Himmel geht, zieht man alle Erdenkleider aus,
weil’s drüben neue gibt, die besser für den Himmel passen. Und denk dir,
man kann nicht nur das Hemdlein ausziehen, sondern auch sogar das
allerinnerste Kleid – den Leib. Das ist auch nur ein Kleid, dein Körper
ist ein Kleid, darinnen der Distelhofpeterli steckt, und wenn dir einmal
der Heiland ein neues entgegenhält, das noch obendrein viel schöner ist,
und wenn er dann sagt: „Schlupf schnell hinein, jetzt geht’s in den
Himmel“ - gelt da besinnst du dich nicht lange! Und was sie dann mit dem
alten, abgelegten machen, wo du gar nicht mehr drin bist, ist dir dann
ganz gleich, das können sie ja auf den Kirchhof tun und in der Erde drin
schön verwahren. Deswegen freust du dich in dem neuen Leib — oder Kleid
doch, wenn du damit über die Himmelswiese gehst. Siehst du nun, so hat
das Meieli schon in der Stube wo’s noch so husten und leiden mußte, wie
ich wohl hab erzählen hören, vom Heiland ein anderes Körperlein
bekommen, das in den Himmel gehörte. Und in dem alten wars nicht mehr
drin, das konnten sie schon forttun. Es hatte wohl noch die Form vom
Meieli; aber gelt, es kam dir doch so anders und so fremd vor, als
hätt’s nichts mehr mit dem lebendigen Meieli zu tun?“ –
Peterli sagte gar nichts mehr. Ganz still und sinnend saß er da. Also
das war das Meieli gar nicht gewesen im Särglein; es hatte den ganzen
Leib ausgezogen und hatte nun einen anderen an. Wie hatte der Herr Jesus
das wohl gemacht? Es war zu wunderbar! Und als ob die junge Frau an
Peterlis Seite Gedanken lesen könne, fügte sie noch hinzu: „Weißt, das
Ausziehen und Neuanziehen, das tut der liebe Heiland für uns Menschen
unsichtbar; wie’s zugeht, weiß keiner. Es braucht’s auch keiner zu
wissen.
Aber wir können Ihm wohl zutrauen, daß Er’s recht macht; und das ist
sicher, daß keiner, der aus der Erdenhülle heraus ist und das
Himmelskleid schon an hat, daß der wieder zurückmöchte – auch dein lieb
Meieli nicht – dem gefällt’s im Himmelsgarten besser als bei euch auf
dem Distelhof. Behalt du nur den Heiland lieb! Wirst sehn, dann kannst
du dich einmal aufs Sterben noch freuen!“ –
Ja, das schien der Peterli nun doch begriffen zu haben. „Also, es war
nur das Kleid“ – wiederholte er sich immer wieder, und mit einem Male
kam eine rechte Erleichterung und eine große Freude über ihn, und er
stand auf und schien es plötzlich sehr eilig zu haben.
„Ich muß schnell heim zur Bäuerin, sie weiß es vielleicht nicht, weil
sie immer so weinen muß – und ich danke auch vieltausendmal!“ – und fort
war er, wie der Wind zur Tür hinaus. Das liebe Schulmeistersfrauchen sah
ihm ergriffen nach und faltete still die Hände zu innigem Dank.
Die Bäuerin saß ganz allein draußen vor dem Haus auf der gescheuerten
Bank und gewahrte mit Verwunderung, wie der Peterli in aller Hast den
Berg heraufkeuchte, so daß ihm der Schweiß in hellen Tropfen auf der
Stirn stand. Was hatte er denn nur? Und dabei glänzte sein Gesicht vor
Freude, wie sie’s noch nie an dem Buben bemerkt.
„Bäuerin, Bäuerin – o, jetzt weiß ich’s – es ist doch im Himmel, das
Meieli, und was sie in den Boden hineingetan, war nur das
allerallerinnerste Kleid – das hat die Lehrerin gesagt, und das Kleid
braucht’s Meieli gar nicht mehr, weil’s ein neues anhat, ein schönes vom
Herrn Jesus!
O, es kann im Himmel laufen, wie es will und freut sich so, daß es da
ist!“ — Nun mußte er sich den Schweiß abwischen und auch noch einen
extra hohen Sprung tun — es war ihm so wohl und leicht, und die Bäuerin
lachte unter Tränen und sagte: „Du gutes Büblein du, daß du einen
solchen Trost brin31 gen kannst! Hätt’s nur der Vater auch gehört!“ —
Zur Annekäthe, der Magd, sagte sie aber am Abend in der Küche: „Man muß
dem Peterli nur noch reine Milch geben, er hat’s nötig und — und — man
kann ihm Meielis Bett in sein Kämmerchen stellen, er ist im Wachsen und
muß einen guten Schlaf haben.“
Und die Annekäthe gehorchte gern. —
Nun hatte der Peterli mit einem Male sein Grauen vor dem Sterben
verloren, und als er abends zur Ruh gegangen, war er auch nach all der
Aufregung sehr bald fest eingeschlafen. Und da hatte er einen schönen
Traum. Er sah ganz deutlich von ferne die herrliche Blumenwiese, und der
liebe Heiland ging darauf, und an der rechten Hand hielt er das Meieli.
Ja, es war noch ganz das Meieli, nur noch viel schöner, und es sah so
glücklich aus und rief ihm von weitem zu: „Gelt, Peterli, komm auch zu
uns — hier ist’s schön!“
An diesen Traum mußte er jedesmal denken, wenn ihm etwas vom Meieli in
den Sinn kam, und immer wieder freute er sich aufs neue, daß er nun wohl
wußte, daß das kleine Mägdlein beim Heiland war. Und in noch viel
späteren Jahren — wenn er an sein eigenes Sterben und Begrabenwerden
dachte und darüber nachdenklich gestimmt wurde, sagte er sich allemal
getrost und voll Zuversicht: „Der Heiland ist ja mit dabei“ — und — „es
ist nur das Kleid!“— —
Wie sich Paul Gerhard an der Bahre seines Sohnes tröstete.
1\. Du bist zwar mein und bleibest mein,\
wer will mir anders sagen?\
Doch bist du nicht nur mein allein;\
der Herr von ewgen Tagen,\
der hat das meiste Recht an dir,\
der fordert und erhebt von mir\
dich, o mein Sohn, mein Wille,\
mein Herz und Wunsches Fülle.
2\. Ach, gült es Wünschens, wollt ich dich,\
du Sternlein meiner Seelen,\
vor allem Weltgut williglich\
mir wünschen und erwählen;\
ich wollte sagen: Bleib bei mir!\
Du sollst sein meines Hauses Zier;\
an dir will ich mein Lieben\
bis in mein Sterben üben.
3\. So sagt mein Herz und meint es gut,\
Gott aber meints noch besser.\
Groß ist die Lieb in meinem Mut,\
in Gott ist sie noch größer.\
Ich bin ein Vater und nichts mehr,\
Gott ist der Väter Haupt und Ehr,\
ein Quell, da Alt und Jungen\
in aller Welt entsprungen.
4\. Ich sehne mich nach meinen Sohn,\
und der mir ihn gegeben\
will, dass er nah an seinem Thron\
im Himmel solle leben.\
Ich sprech: Ach weh, mein Licht verschwindt!\
Gott spricht: Willkommn, du liebes Kind,\
dich will ich bei mir haben\
und ewig reichlich laben.
5\. O süßer Rat o schönes Wort\
und heilger als wir denken!\
Bei Gott ist ja kein böser Ort,\
kein Unglück und kein Kränken,\
kein Angst, kein Mangel, kein Versehn,\
bei Gott kann keinem Leid geschehn;\
wen Gott versorgt und liebet,\
wird nimmermehr betrübet.
6\. Wir Menschen sind ja auch bedacht,\
die Unsrigen zu zieren;\
wir gehn und sorgen Tag und Nacht,\
wie wir sie wollen führen\
in einen feinen selgen Stand,\
und ist doch selten so bewandt\
mit dem, wohin sie kommen,\
als wir’s uns vorgenommen.
7\. Wie manches junge fromme Blut\
wird jämmerlich verführet\
durch bös Exempel, dass es tut,\
was Christen nicht gebühret.\
Da hat’s denn Gottes Zorn zum Lohn,\
auf Erden nichts als Spott und Hohn,\
der Vater muss mit Grämen\
sich seines Kindes schämen.
8\. Ein solches darf ich ja nun nicht\
an meinem Sohn erwarten;\
der steht vor Gottes Angesicht\
und geht in Christi Garten,\
hat Freude, die ihn recht erfreut,\
und ruht von allem Herzeleid;\
er sieht und hört die Scharen,\
die uns allhier bewahren.
9\. Er sieht und hört der Engel Mund,\
sein Mündlein hilft selbst singen;\
weiß alle Weisheit aus dem Grund\
und redt von solchen Dingen,\
die unser keiner noch nicht weiß,\
die auch durch unsern Fleiss und Schweiß\
wir, weil wir sind auf Erden,\
nicht ausstudieren werden.
10\. Ach, sollt ich doch von fernen stehn\
und nur ein wenig hören,\
wenn deine Sinnen sich erhöhn\
und Gottes Namen ehren,\
der Heilig, Heilig, Heilig ist,\
durch den du auch geheiligt bist:\
Ich weiß, ich würde müssen\
vor Freuden Tränen gießen.
11\. Ich würde sprechen: Bleib allhier!\
Nun will ich nicht mehr klagen:\
Ach, mein Sohn, wärst du noch bei mir!\
Nein; sondern: Komm du Wagen\
Eliä, hole mich geschwind\
und bring mich dahin, wo mein Kind\
und so viel liebe Seelen\
so schöne Ding erzählen.
12\. Nun, es sei ja und bleib also,\
ich will dich nicht mehr weinen.\
Du lebst und bist von Herzen froh,\
siehst lauter Sonnen scheinen,\
die Sonnen ewger Freud und Ruh;\
hier leb und bleib nun immerzu,\
ich will, will’s Gott, mit andern\
auch bald hernach erwandern.